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  • Thomas Brasch »Mercedes«

Zaudern vor dem eigenen Leben

In Berlin wurde der Dramatiker Thomas Brasch wiederentdeckt und sein Stück »Mercedes« inszeniert

  • Michael Wolf
  • Lesedauer: 7 Min.

Namen haben etwas von einem Zauber. Wer erst mal bezeichnet wurde, kann auch adressiert werden, so wie auch alle anderen über ihn sprechen und auf ihn referieren können. Er oder sie ist eingebunden, ist bereits Teil eines Systems von Benannten, von Identifizierten. Identität ist der Heimat der Schnecken ähnlich, denn einen Namen zu tragen heißt auch, sein eigenes Zuhause, seine fremde Bestimmung, nicht mehr loswerden zu können, sie immer mit sich zu tragen.

Das Individuelle ist auch nur eine Kategorie, die das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft beschreibt, eine Bemessung des Abstands von der Norm, von den Erwartungen all der anderen. »Oi heiß ich«, sagt eine Figur. »Issn Name oder so bloß?«, fragt die andere, die sich Sakko nennt, aber genau wie Oi eben »bloß so«. Keinen »richtigen« Namen schleppen die beiden mit sich herum, oder sie verschweigen ihn. Wohl weil sie fürchten, dann verloren zu gehen, wenn jemand ihn herausbekommt, ihn ausspricht und ihr ganzes Wesen damit auf etwas festnagelt, was sie angeblich sind.

Fast hat man Mitleid mit ihnen, die sich hier so abrackern im Kampf gegen ihre Bestimmung, weil sie doch Figuren sind, dass sie nicht hingeworfen wurden auf die Welt, sondern erschaffen, wohl auch ein wenig als Ebenbilder des Autors Thomas Brasch, eines großen Individualisten unter den Schriftstellern des Ostens wie Westens.

Brasch legte sich früh mit dem System an, was seinen Vater, einen hohen SED-Funktionär, die Karriere kostet. Wegen der Verteilung von Flugblättern gegen den Einmarsch der Staaten des Warschauer Pakts in Prag wurde er 1968 zu einer Haftstrafe verurteilt. Nach seinem Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns stellte er einen Ausreiseantrag und ging mit seiner damaligen Lebensgefährtin, der Schauspielerin Katharina Thalbach, in den Westen. Bald erschien sein größter schriftstellerischer Erfolg, der Prosaband »Vor den Vätern sterben die Söhne«. Doch so richtig kam er offenbar nie irgendwo an.

1981 sorgte er für einen Eklat, als er anlässlich der Verleihung des Bayerischen Filmpreises in Anwesenheit von Franz Josef Strauß der Filmhochschule der DDR für seine Ausbildung dankte. Nach der »Wende« wurde es still um ihn, Drogen und Alkohol forderten ihren Tribut. Wie seine Brüder Peter, ebenfalls Autor, und Klaus, ein Schauspieler, starb er früh, im November 2001.

Die Regisseurin Charlotte Sprenger, die sein 1983 in Zürich uraufgeführtes Stück »Mercedes« nun in der Box des Deutschen Theaters Berlin inszenierte, war zum Zeitpunkt von Braschs Tod gerade elf Jahre alt. Schwer zu sagen, wie sie auf diesen Text gestoßen ist, denn anders als der Prosaautor oder auch der Lyriker ist der Dramatiker Thomas Brasch weitgehend in Vergessenheit geraten. Sprenger, da mag eine Verbindung liegen, hat bereits mehrmals Texte von Elfriede Jelinek auf die Bühne gebracht. Im Wenden und Ausquetschen geben die Wörter bei ihr Bedeutungen und Gewaltverhältnisse preis, auch bei Brasch findet sich dieses Verfahren.

Im Prolog von »Mercedes« heißt es: »Die Regeln. Denen ich Halt gegeben habe. Die mich nicht befolgen. Die Regeln. Die aufgestellt wurden, mich aufzuhalten. Halt. Die eingehalten werden. Die mich aufhalten. Die mir Halt geben. Halt. Die Regeln. Halt.« Wenn mit Wittgenstein die Grenzen der Sprache die Grenzen der eigenen Welt sind, so erkennt man hier ihre Gitterstäbe. Wie könnte man da entkommen?

Sakko (Julia Windischbauer) und Oi (Franziska Machens) wissen es nicht. Und versuchen es trotzdem. Sie treffen sich auf der Straße, zwei junge Herumtreiber, arbeitslos oder arbeitsscheu. Haltlos in jedem Fall, weil sie sich, herausgefallen aus der Gesellschaft, weder selbst tragen noch ertragen können. Eine Handlung gibt es nicht im engeren Sinne, darf es auch nicht geben, hieße das doch für diese Figuren, Motivationen zu folgen, etwas sein zu wollen und damit schon verloren zu haben. Weder die angedeutete Liebesgeschichte der beiden kommt zu einem Ergebnis noch irgendetwas anderes. Diese Figuren schrumpfen eher, als dass sie sich entwickelten. Sakko behauptet zunächst, Autos zu überführen. Dann gibt sie zu, sie nur für Geld zu zählen. Schließlich zeigt sich, dass sie gar keine Arbeit hat. Als sie verkündet, zur Armee gehen zu wollen, brüllt Oi sie an: »Sollnse dir n Kopf wegschießen Da iss sowieso niks drin Bombe rauf und fertig Muß weg was nich weiß wos hinsoll!«

Sie nähern und schreien sich an, verlassen einander. Doch wenn sie sich wiederbegegnen, tun sie so, als kennten sie einander nicht. Jede Verpflichtung verstieße gegen ihren unausgesprochenen Schwur, hier auf der Straße noch eine Weile frei zu sein. Sie sind gefährdeter als gewöhnliche Flüchtende, weil sie gar nicht zu wissen scheinen, wovor wegrennen und wohin sich wenden. »Bloß so« zu sein, heißt eben auch »bloß« sein, nackt, ungeschützt. Nach jedem Schritt oder gefahrenen Kilometer könnte ihre Route in einem Krater enden. Nicht ohne Grund ist der titelgebende Mercedes in der Mitte der Bühne ein Wrack ohne Räder, verrostet und ohne Fenster. Der Tod ist hier immer nur ein paar Repliken entfernt, diese Rückkehr in den Zustand vollständiger Unbestimmtheit, verstanden als Ausweg aus einem Leben, das nur ein Leben in der Gesellschaft sein kann und damit eines im Zwang, eines unter Kontrolle.

Sie haben gemeinsam einen Pakt mit der Straße geschlossen, mit diesem Nicht-Ort. Ein Transitraum, an dem man vielleicht noch am besten nirgendwo sein kann, nichts sein kann, wofür die Menschen schon Wörter haben. »Is that all there is? If that’s all there is, then let’s keep dancing«, singt Franziska Machens an einer Stelle. Die Autobahn, der »Highway«, sind Wege, die eine eigene Faszination ausüben. Auf literarischen und filmischen Roadtrips gibt es kein klares Ziel, der Weg selbst ist es auch nicht, wohl aber seine Abwesenheit. Auf der Straße, geborgen in der Fliehkraft der eigenen Bewegung, eröffnet sich die naive Hoffnung, sich aller Zugriffe erwehren zu können und hier, zwischen Anfang und Ende, so zu werden, wie man eigentlich ist.

Dass diese »Eigentlichkeit« nur eine weitere Lüge ist, dass die Straße nur Aufschub, aber keine Rettung bedeutet, wissen die beiden vermutlich selbst und helfen mit Drogen nach: »Daßde alles vergißt wasde nich wissen willst«. Sie sind ständig unfertige Entwürfe ihrer eigenen Fantasie und zugleich deren Opfer, weil ihre Vorstellungskraft zugleich zu groß und zu klein ist. Zu groß, um das bürgerliche Leben tatsächlich anzunehmen. Zu klein, um zu bemerken, dass es dazu kaum Alternativen geben dürfte, ohne vor die Hunde zu gehen. Machens trägt einen schrill grünen Jumpsuit mit Brandlöchern und wirkt darin wie eine Superheldin in Frührente; Windischbauer ein leichtes, weites Kleid aus billigstem Stoff, als habe ihre Sakko den Kindertraum nicht aufgegeben, eine Prinzessin zu sein.

Der Dritte im Bunde, Caner Sunar, spielt eine Leiche. Lange sitzt er nur mit geschlossenen Augen auf dem Fahrersitz. Er hat sich umgebracht, weil seine Firma bankrottging. So steht es in einem Abschiedsbrief an einen Geschäftspartner: »Der Mensch braucht Arbeit oder er ist keiner. Mit vielen Grüßen und Wünschen für den Rest Deiner Tage«, schließt das Schreiben mit einer etwas lapidaren Kritik am Arbeitsethos der Bonner Republik.

Heutiger wirkt das bald 40 Jahre alte Stück, wenn Sprenger und ihr Ensemble dessen Themen ihrer Zeitlosigkeit überlassen, als Spiel um des Spielens willen, das die Zwänge der Gesellschaft für eine Zeit lang auf Abstand hält und auch jede allzu klare Deutung des sprunghaften Textes ins Leere laufen lässt. Natürlich kann das nicht ewig gut gehen, und es geht ja auch nicht gut zu Ende. Einer der beiden traurigen Helden bezahlt mit dem Leben für sein Zaudern vor demselben. Und doch - und das kommt unerwartet - ganz ohne Zuversicht, ohne Schönheit muss man das Theater nicht verlassen. »stehstndasorum«, lautet die allerletzte Frage, und es folgt die rotzige, sture, wunderschöne letzte Zeile: »stehicheben«.

Nächste Vorstellungen am 14., 15. und 17.9.

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