Lernen, die Welt zu lenken

Der Animefilm »Aya und die Hexe« von Goro Miyazaki

  • Felix Bartels
  • Lesedauer: 5 Min.

Es bleibt seltsam zu hören, dass es mit Ghibli immer noch weitergeht. Allein schon, weil die Dioskuren des Studios nichts mehr auswerfen. Isao Takahata ist 2018 gestorben, Hayao Miyazaki hat sich zur Ruhe gesetzt. Die maßgeblichen Regisseure des Anime-Genres heißen mittlerweile Mamoru Hosoda und Makoto Shinkai. Sie ziehen vor, selbstständig zu arbeiten, während Goro Miyazaki das Studio seines Vaters eher unauffällig fortführt. Seltsam ist es auch, weil das, was Ghibli heute vorlegt, in mehrfacher Hinsicht mit den Traditionen seiner Gründer gebrochen hat.

Erfolgreich wurden die Ghibli-Filme vor allem vermöge ihrer ästhetischen und thematischen Einheit. Sie entstanden ausschließlich durch Zeichentrick, man widersetzte sich dem von Disney und Pixar erzeugten Druck der CG-Animation, dem irgendwann selbst das hoch nostalgische Asterix-Franchise nachgegeben hatte. Ghiblis Credo, beim groben Duktus zu bleiben sowie auf allzu flüssige und dynamische Bewegung zu verzichten, stand in engem Zusammenhang mit dem großen Thema seiner Filme: der Einheit von Mensch und Natur, dem Schutz der Umwelt, der Kritik am Fortschritt um des Fortschritts willen. Auch von diesem Komplex, der inhaltlichen Linie, ist wenig geblieben.

Es war in der Tat Goro Miyazaki, der Sohn, der das erste Mal bei einer Ghibli-Produktion digitale Animationstechnik einsetzte. Mit der 26-teiligen Serie »Ronja Räubertochter« (2014) - beiläufig: ein Meisterstück und sehr viel näher an der literarischen Vorlage als der 1984 gedrehte Kinoklassiker aus Schweden - wich Ghibli vom Pfad der Tugend ab, wenngleich das stilistisch damals noch nah an den Vorgängern blieb. Jetzt hat Miyazaki erneut gesündigt: Mit »Aya und die Hexe« gelangte letzte Woche ein Film auf den deutschen Markt, der nun wirklich wie eine Verschmelzung von Pixar und Ghibli aussieht. Und als ob das nicht Sünde genug war: Es sieht auch sündhaft gut aus. Wie eins dieser Kinder, das die hübschen Züge beider Elternteile mitbekommen hat. Und die passen zueinander. Wozu ja, wenn es um Kunstherstellung geht, Fingerspitzengefühl nötig ist. Trotz Animation bleibt die Bewegungsweise der Figuren vertraut - der Rhythmus der Schritte, die Art, wie die Kamera den Gang einfängt, die begleitenden Toneffekte sorgen von Anbeginn für etliche Natsukashi-Momente, obgleich das alles so anders erscheint.

Der Film folgt der literarischen Vorlage »Earwig and the Witch«, geschrieben 2011 von Diana Wynne Jones. Von ihr stammt auch die Inspiration zum Ghibli-Klassiker »Das wandelnde Schloss« (2004), den Miyazaki père inszenierte. Umgekehrt scheint die Autorin ebenso von Ghibli beeinflusst, etwa wenn in »Aya und die Hexe« eine sprechende schwarze Katze auftaucht, die unwillkürlich an Jiji aus »Kikis kleiner Lieferservice« (1989) denken lässt. Mit Katzen hatten die Ghibli-Männer es ohnehin.

Aber worum geht es eigentlich in »Aya und die Hexe«? Im südlichen England der 90er Jahre tritt eine Hexe auf die Schwelle eines Waisenhauses. Sie ist auf der Flucht vor bösen Mächten und will ein neugeborenes Mädchen, das sie im Beiwagen ihres Motorrads verborgen hat, in Sicherheit bringen. Nein, wir sind nicht bei Harry Potter. Das kleine Wesen heißt Earwig, was man im Heim seltsam findet und daher Aya genannt wird. Gute zehn Jahre später ist das Heim vollauf Ayas Zuhause. Sie spielt Streiche, ist der Leiterin behilflich, beschützt die anderen Kinder und flirtet mit dem Koch. Um mögliche Adoptiveltern abzuschrecken, hat sie Techniken entwickelt, die bislang ganz gut funktioniert haben. Denn Aya fühlt sich wohl im Waisenhaus, hier beherrscht sie die Umgebung und wickelt, wie sie selbst es ausdrückt, jeden um den Finger. Als Waisenkind musste sie früh lernen, wie eine Erwachsene zu denken. Eines Tages aber funktioniert die Abschreckung nicht. Eine exaltierte Frau mit blauen Haaren wählt Aya aus und eröffnet ihr später, dass sie Bella Yaga heiße und eine Hexe sei. Aya ist sogleich begeistert und möchte das Hexenhandwerk erlernen. Bella Yaga betrachtet das Mädchen aber bloß als Arbeitskraft, und Aya lebt nun gefangen in einem Haus, das die Hexe mit dem ebenfalls des Zauberns kundigen Mandrakus bewohnt. Das Mädchen hat keine Wahl, es muss die Regeln dieser seltsamen Umgebung erlernen, um ihr entfliehen zu können. Dabei findet es in dem sprechenden Kater Thomas einen Verbündeten.

Anders als die meisten klassischen Ghibli-Werke ist dieses ein reiner Kinderfilm. Doch auch als solcher hat er eine interessante Struktur, und sein Thema ist recht offensichtlich der Kampf, den jegliches Kind im Lauf seines Heranwachsens mit der Welt zu führen hat. Hinzu kommt die Verknüpfung des Waisenmotivs mit dem der Besonderheit. Alle begabten Kinder sind Waisenkinder. Sie spüren die Zufälligkeit der Herkunft deutlicher als jene, die in das Umfeld passen, worin sie leben. Das begabte Kind befindet sich sein Leben lang, selbst wenn es längst erwachsen geworden ist, auf der Suche nach seiner wahren Familie. Und eigentlich, so will es der Film, gibt es für jeden Menschen einen Ort, an den er passt. »Die Lücke, die eine Hexe hinterlässt, kann nur eine neue Hexe füllen«, heißt es vice versa.

Während Aya langsam immer besser darin wird, sich im Haus der Hexe durchzusetzen, stellen sich dem Zuschauer die Bezüge zu ihrer Zeit im Waisenhaus her. Dort war sie noch ohne Magie, agierte aber ähnlich. Mit Tricks und psychologischem Geschick manipulierte sie ihr Umfeld. Traurigerweise sind es gerade Waisenkinder, bei denen die sogenannte Parentifizierung sich am stärksten ausprägt. Doch für jedes Kind gilt: Die Welt ist unzumutbar. Und wenn Aya sich durchsetzt, dann nicht, weil sie diese Verhältnisse durchbricht. Sie besiegt sie nicht, sie siegt in ihnen. Der heranwachsende Mensch muss sich dem Weltgesetz unterwerfen, ehe er die Welt lenken kann.

Das wirkt nun mit Rücksicht auf Filme wie »Chihiros Reise ins Zauberland« oder »Mein Nachbar Totoro« nicht bloß wie eine Abweichung vom Weltbild der Ghibli-Filme, sondern nachgerade wie ein Gegenentwurf.

»Aya und die Hexe« (»Aya to Majo«): Japan 2020. Regie: Goro Miyazaki, Drehbuch: Keiko Niwa, Emi Gunji. Mit: Kokoro Hirasawa, Shinobu Terajima, Etsushi Toyokawa. 79 Min. Als DVD bei Leonine Anime.

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