• Berlin
  • Armut in der Hauptstadt

Eine halbe Million Armutsbedrohte

In Berlin und Brandenburg muss mehr als ein Viertel der Arbeitenden mit extrem niedrigen Löhnen auskommen

  • Claudia Krieg
  • Lesedauer: 6 Min.

Für Reinigungskräfte ist es besonders schwer. »In der Branche arbeiten 77 Prozent der Beschäftigten in Teilzeit und insgesamt 52,2 Prozent der Beschäftigten in Deutschland sind geringfügig angestellt«, sagt Jens Korsten von der Gewerkschaft IG BAU in Berlin. Viele von ihnen tragen eine dreifache Last: Ihr Lohn ist niedrig, ihre wenigen Arbeitsstunden liegen dann noch ungünstig frühmorgens oder spätabends, in der Regel haben sie Teilzeit- oder Minijobs. Erschwerend komme hinzu, dass die zu reinigende Fläche von Unternehmen stetig vergrößert werde, so Korsten. »Wenn man einen 39-Stunden-Vertrag hat, dann kann man davon schon leben. Da bleiben dann netto mitunter 1300, 1400 Euro. Aber das ist kein gutes Leben, das ist kein Leben, in dem man sich was gönnen kann, in dem man eine Sicherheit hat«, sagt der Gewerkschafter zu »nd«.

Die Reinigung von öffentlichen Gebäuden oder privaten Büros, Gastronomie und Hotellerie, andere Dienstleistungen, Paketzustellungen, Bringdienste en masse, Callcenter, Friseur*innen, Securitydienste - in Berlin ist das Risiko, im Niedriglohnsektor zu landen, besonders hoch, wenn auch am geringsten im Vergleich mit den anderen ostdeutschen Bundesländern, über die die Linke-Bundestagsabgeordnete Sabine Zimmermann im vergangenen Jahr einmal gesagt hatte, Niedriglohn sei ihr »Markenkern«. In Brandenburg kommen noch die Saisonarbeitskräfte in der Landwirtschaft dazu. Bis zu 20 000 Erntehelfer*innen sollen hier zumindest offiziell den seit Juli diesen Jahres auf 9,60 Euro pro Stunde angehobenen Mindestlohn erhalten. Allerdings ohne Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung. Im Juni 2021 wurde ein Gesetz verabschiedet, dass es erlaubt, Saisonarbeiter*innen bis zu 102 Tage sozialversicherungsfrei zu beschäftigen. Die Regelung wird auch in Bereichen wie Gastronomie und Logistik häufig genutzt. Gedacht war sie ursprünglich für Schüler*innen und Studierende.

So arbeiteten von 2017 bis 2019 durchschnittlich 375 000 Berliner*innen und in Brandenburg rund 280 000 Menschen zu einem Stundenlohn unter 11,13 Euro, so der aktuelle Niedriglohnbericht des Deutschen Gewerkschaftsbunds DGB. Das führe zu der »Tendenz, dass immer mehr Beschäftigte mehreren Jobs nachgehen«, sagt dazu die scheidende Arbeitssenatorin Elke Breitenbach (Linke). Seien es in Berlin vor zehn Jahren etwas über 64 000 Mehrfachbeschäftigte gewesen, lag die Zahl 2019 bereits bei knapp 103 000. »Das ist eine gewaltige Steigerung«, so Breitenbach. »Auf die Frage nach dem ›Warum‹ heißt die Antwort oft: Viele von ihnen können von einem Job allein nicht leben und müssen dazuverdienen«, so die Linke-Politikerin. Dieser Trend dürfte sich durch die Corona-Pandemie verschärfen.

Fast jeder Vierte der abhängig Beschäftigten wird demnach in der Hauptstadt für seine Tätigkeiten so schlecht bezahlt, dass es eigentlich nicht zum Leben reicht. In Deutschland insgesamt ist es jeder fünfte. Sogar in Griechenland, ein von der Austeritätspolitik der Bundesregierung hart getroffenes Land, arbeiten weniger Menschen für so wenig Geld als in der Bundesrepublik.

In Ostdeutschland hatte sich der Niedriglohnsektor in besonderem Maße ausgebreitet, erfährt aber auch einen deutlichen Rückgang - arbeiteten vor zehn Jahren noch fast 40 Prozent der abhängig Beschäftigten in dem Bereich, sind es mittlerweile »nur« noch etwas über ein Viertel. Der nach wie vor bestehende Unterschied geht im wesentlichen auf das geringere Lohnniveau in den ostdeutschen Bundesländern zurück: Während im Westen der mittlere Bruttostundenlohn auf das Jahr gerechnet, also inklusive Zuschlägen und Jahressondervergütungen mittlerweile bei 17,25 Euro liegt, ist der Median im Osten 14,24 Euro - für Vollzeitbeschäftigte entspricht das einer Lohnlücke von 650 Euro pro Monat.

»Achten Sie darauf, allein in unserer Region verdienen mehr als eine halbe Million Menschen zu wenig. Sie sind früher oder später, spätestens aber mit Renteneintritt, von Armut bedroht«, appelliert Christian Hoßbach, DGB-Vorsitzender der Region Berlin-Brandenburg anlässlich der Veröffentlichung des Niedriglohnberichts. Für den Gewerkschafter beschleunigt die Strategie geringer Entlohnung die soziale Spaltung der Gesellschaft - »ein Nährboden für den Verlust des sozialen Friedens«.

»Der DGB-Report zeichnet ein schiefes Bild des Arbeitsmarktes in Berlin und Brandenburg«, widerspricht Alexander Schirp, stellvertretender Hauptgeschäftsführer der Unternehmensverbände Berlin-Brandenburg, dem dramatischen Eindruck. Man habe seitens der Unternehmen in den vergangenen zehn Jahren in Berlin 500 000 sozialversicherungspflichtige Jobs geschaffen, sagt der Verbandsvertreter - eine »historische Erfolgsgeschichte«. Es gilt auf Unternehmerseite das Argument, dass eine Bezahlung, »die der Markt nicht hergibt«, die Beschäftigung vor allem von gering Qualifizierten erschwere. Das heißt zum Beispiel: Lebensmittel-Discounter stellen vor allem ungelernte Arbeitskräfte ein. Es lohne sich nicht, diesen mehr Lohn zu zahlen. Zudem »würde ein Mindestlohn von zwölf Euro Dutzende Tarifverträge in der Region aushebeln«, so Schirp. Die angepeilte Anhebung des Mindestlohns in zwei Schritten bis zum 1. Juni 2022 auf 10,45 Euro pro Stunde sei ausreichend. Löhne müssten sich nun mal »an der Konkurrenzsituation und an der Zahlungsbereitschaft der Kunden« orientieren, erklärt Schirp. Nur eine abgeschlossene Ausbildung garantiere »ein ordentliches Einkommen«.

Dass dem nicht so ist, belegt der DGB-Report eindrücklich. Viele Menschen in der Region werden trotz Berufsausbildung nicht als Fachkraft beschäftigt und bezahlt. Jeder Zweite im Berliner Niedriglohnsektor hat eine abgeschlossene Ausbildung, in Brandenburg sind es sogar drei Viertel: Der Großteil der Menschen, die einen Beruf erlernt haben, kommt damit nicht auf den entsprechenden Lohn. Und das seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten: In Brandenburg ist jeder dritte Beschäftigte mit geringem Einkommen älter als 55 Jahre. Zugleich betrifft es keinesfalls nur diejenigen, die ihre Berufsausbildung in der DDR abgeschlossen haben, und damit nach der Wiedervereinigung keine Anerkennung erhielten oder sich vor dem Hintergrund des Abbaus der ostdeutschen Industrie- und Produktionslandschaft »neu orientieren« mussten. Denn ein Drittel der Beschäftigten im Niedriglohnbereich ist jünger als 35. Ohne Qualifizierungs- und Weiterbildungsmöglichkeit haben sie das gleiche Schicksal wie die Generationen vor ihnen.

Die Gewerkschaften in der Region streiten derweil nicht nur für einen höheren Mindestlohn von zwölf Euro, sondern auch für eine Abschaffung der Minijobs, die im Zuge der Agenda 2010 eingeführt wurden und in hohem Maße für die Abwertung von Arbeit verantwortlich seien. »Gute Arbeit« stehe dem gegenüber, betont zum Beispiel Sebastian Riesner von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten in Berlin-Brandenburg und fordert »armutsfeste Tariflöhne«. Beschäftigte, die sachgrundlos befristet oder sozialversicherungsfrei arbeiteten, seien auch in der Krisenzeit der Jahre 2020 und 2021 »die ersten Verlierer« gewesen. »Die finanziellen Entlastungen für die Unternehmen durch Senkung der Mehrwertsteuer auf Speisen, Getränke und Beherbergung müssen auch bei den Beschäftigten ankommen«, betont Riesner.

Denn von den prekären Beschäftigten noch einen Arbeitskampf zu fordern und diesen zu organisieren, ist enorm schwierig, weiß Jens Korsten von der IG BAU: es fehle an »Gemeinschaftsgefühl«, unter anderem, weil es keine gemeinsamen Orte gebe. »Und diese Kämpfe, die man führen muss, gehen sehr häufig an die Substanz. Wenn die Kolleginnen und Kollegen sich nicht kennen, geschweige denn sich vertrauen, dann kann man die Kämpfe nicht gewinnen.«

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