Der paradoxe Jude

Ein Diskurs über Definierwütigkeit und Identitäten

  • Alexander Estis
  • Lesedauer: 6 Min.

Ist Max Czollek ein Jude? Warum nicht! In der Debatte über die jüdische Identität dieses Autors herrscht eine verbitterte diskursive Verflachung. Und eine gewisse – fast möchte man sagen: unjüdische – Humorlosigkeit. Ein alter (sind sie nicht immer alt?) jüdischer Witz geht so: Fritzchen kommt zum Vorspielen an die Musikschule. Sein Spiel übertrifft alle Erwartungen. »Ei, wie heißt denn deine Mutter?«, fragt der Prüfer. »Ingeborg«, antwortet Fritzchen. »Und dein Vater?« – »Herbert.« – »Und deine Großmutter?« – »Mechthild.« – »Na so was! Und dein Großvater?« – »Moses.« – »Ach«, seufzt der Lehrer erleichtert auf, »wie tief doch bisweilen das Talent verborgen ist!«

Tief verborgen mögen in diesem Sinne auch die entsprechenden Wurzeln des Autors Max Czollek sein, über dessen jüdische oder eben nichtjüdische Identität im deutschen Feuilleton eine Debatte entbrannt ist. No na, will man da ausrufen, a Goj wird sich freiwillig Jud schimpfen lassen! Damit könnte man die Chose getrost für beendet erklären. Denn die längste Zeit war es ein Problem, Nichtjude zu werden. Allerdings mündete die Diskussion mal wieder in einen alten (sind sie nicht immer alt?) jüdischen Grundsatzstreit: Mihu jehudi? Wer ist eigentlich Jude?

Darauf hat die Volksfront von Judäa eine ebenso einfältig-eindeutige Antwort parat wie die judäische Volksfront. Und als wäre das nicht schlimm genug: Liest man die Kommentarspalten, kann man sich kaum des bedrückenden Eindrucks erwehren, dass hierzulande auch jeder noch so biogojische Hansjürgen über ein letztinstanzliches Urteil verfügt, wer ein Jude zu sein hat und wer nicht. Wie oft habe ich dies gehört: »Ach, du bist gar nicht religiös? Na, dann bist du natürlich auch kein Jude.« Und das war sogar noch irgendwie gut gemeint, als ein verbales Schulterklopfen.

Schon ein Vergleich zwischen der deutschen und der englischen Version des Wikipedia-Eintrags mit der Überschrift »Wer ist Jude?« kann ein ungefähres Gefühl dafür vermitteln, wie unterkomplex diese Problematik im deutschsprachigen Raum im Regelfall abgehandelt wird – anders übrigens auch als in Israel. Die in ihrer Schlichtheit gefährlich verlockend-einfachen Lösungen sind dabei einer je eigenen Form von Kurzsichtigkeit geschuldet. »Ob man jüdisch ist oder nicht, richtet sich nach den Regeln der Religion«, dekretiert Josef Schuster, Vorsitzender des Zentralrats der Juden, in der »Jüdischen Allgemeinen«. Das ist wahr, nur die Wörter stimmen nicht. Da Schuster im nächsten Atemzug die Matrilinearität ins Feld führt, wird nämlich deutlich, dass Religion für ihn Orthodoxie bedeutet – und der Satz also nichts anderes besagen kann als: Ob man orthodox jüdisch ist, richtet sich nach den Regeln des orthodoxen Judentums. Man höre und staune!

Lässt man aber das erste »orthodox« weg, wird die Aussage sogleich mehr als strittig. Nicht nur viele religiöse jüdische Denominationen würden ihr sofort widersprechen, einschließlich der mitgliederreichen reformjüdischen Gemeinde in den USA. Auch kann gerade das Judentum mit einer langen säkular-aufklärerischen, teilweise sogar dezidiert antireligiösen Tradition aufwarten, die einerseits beträchtliche intellektuell-kulturelle Kontinuität aufweist, ohne sich andererseits orthodoxen Setzungen irgend verpflichtet zu fühlen. Das ganze Unternehmen Zionismus, das in der Mitte des 19. Jahrhunderts begann, war ein säkulares – und musste sich gegen die religiöse Tradition stellen.
Nur um einige Namen zu nennen: Martin Buber, Gershom Scholem und in neuerer Zeit Amos Oz haben sich mit der Identitätsfrage befasst – und zu völlig anderen, im Doppelsinne unorthodoxen Erkenntnissen über das Wesen jüdischer Zugehörigkeit gefunden. Solche Stimmen scheinen im heutigen (man vergebe mir den Kalauer) intellektuell beschnittenen medialen Diskurs allerdings kaum mehr eine Rolle zu spielen.

Das Attribut »jüdisch« ist nicht eindimensional; es umfasst neben der religiösen zumindest noch eine ethnische und eine kulturelle Ebene. Wer dies ignoriert oder negiert, leistet einer kolossalen Verflachung Vorschub, fällt hinter Jahrhunderte jüdischer Selbstreflexion zurück. Und dies gerade zu einer Zeit, in der die Komplexität von Identitätskonstruktionen beinah täglich Diskussionsstoff bietet. Wenn aber schon die Zugehörigkeit zu einer rein ethnisch definierten Gruppe heute zu Recht als hochkomplexes Konzept betrachtet wird, wie sehr gilt dies erst recht für eine ethnisch-kulturell-religiöse Gemeinschaft wie die der Juden!

Matrilinearität als Kriterium hingegen ist linear und damit eindimensional. Dafür dass es schlichtweg nicht hinreicht, bin ich selbst ein wandelndes Beispiel: Die Mutter der Mutter meiner Mutter war möglicherweise Nichtjüdin – und dies als Einzige unter meinen Ahnen. Damit wäre auch meine Großmutter Nichtjüdin, meine Mutter Nichtjüdin und ich selbst ein Goj. Freilich wussten wir Ostjuden nie etwas davon, dass wir offenbar gar keine Juden waren. Denn in der Sowjetunion wurde das Judentum als Nationalität angesehen; Matrilinearität spielte keinerlei Rolle. Selbst den orthodoxen Rabbinern, bei denen ich die Gebete erlernte, war es egal, was meine Urgroßmutter genau war oder nicht war: Von mir, dem Toraschüler mit Pejes an den Schläfen, Kippa auf dem Kopf und Generationen Verfolgter und Vernichteter im Rücken, einen Giur, also eine Konversion ins Judentum zu verlangen, dürfte auch ihnen absurd erschienen sein. Sollte aber irgendein meschuggener Schmock die Chuzpe besitzen, mir ob meines Stammbaums das Jüdischsein absprechen zu wollen, könnte ich ihm nur antworten: »No na, meine Nase ist jüdisch, aber ich bin a Goj!«

Es mag der üblichen (und nicht immer unberechtigten) neurotischen Angst vor dem Rassendenken zuzuschreiben sein, dass man Jüdischkeit nur unter größtem Widerstand als nicht zuletzt ethnische Kategorie anzusehen bereit ist. Doch hat eine ethnische Auffassung nichts mit den Rassegesetzen zu tun. Sephardische und aschkenasische Juden vertraten die ethnische Sicht schon lange vor dem Aufkommen der NS-Rassenlehre.

Tatsächlich ist es zumeist nicht der konkrete Inhalt einer ethnischen Definition, der menschenfeindlich und im Extremfall rassistisch ist, sondern der starrsinnige Glaube an die Unverrückbarkeit einer wie auch immer gearteten Bestimmung des Jüdischseins. Denn hinter solchem Dogmatismus lauert unvermeidlich die Gefahr der Ausgrenzung. Als falsche Identität stellt sich am Ende daher weit weniger die angeblich unzureichende Jüdischkeit von Max Czollek heraus, als vielmehr das simplifizierte Bild, das Definierwütige sich von Jüdischkeit machen.

Das Beste am Judentum ist schließlich, dass es seit jeher – in guter talmudistischer Tradition – das Vermögen besitzt, sich selbst und die eigenen Setzungen nicht allzu ernst zu nehmen. Ein sinniger (sind sie nicht immer sinnig?) jüdischer Witz lautet: »Was ist ein Jude, der von einer jüdischen Mutter abstammt, in die Synagoge geht, die Kippa trägt und am Schabbes nicht arbeitet? Ein orthodoxer Jude. Und was ist ein Jude, der nicht von einer jüdischen Mutter abstammt, nicht in die Synagoge geht, keine Kippa trägt und am Schabbes arbeitet? Ein paradoxer Jude.«

Alexander Estis, 1986 in Moskau geboren, freischaffender Jude ohne festen Wohnsitz.

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