»Der Anschlag von Halle hat uns nicht überrascht«

Marina Weisband über Antisemitismus in Deutschland und ihre Entscheidung, die Davidstern-Kette nicht mehr zu tragen

  • Philipp Hedemann
  • Lesedauer: 10 Min.

Die Zahl antisemitischer hat in den letzten Jahren weltweit stark zugenommen. Führt die Pandemie aktuell zu noch mehr Antisemitismus?

Auf jeden Fall. Corona ist eine globale Krise. Sie greift tief in das Leben der Menschen ein. Viele Menschen haben ein emotionales Bedürfnis daran zu glauben, dass es auch während der Coronakrise eine Gruppe gibt, die Geschehnisse kontrolliert. Das müssen nicht zwangsläufig die Juden sein. Es können auch Bill Gates, die Pharmalobby oder die Regierung sein. Aber die Geschichte, dass die Juden vieles kontrollieren, ist so alt und so tradiert, dass sie oft mitschwingt. Juden gehören deshalb auch in der Coronakrise zu den Sündenböcken.

Zur Person
Marina Weisband
Marina Weisband wurde 2011 als politische Geschäftsführerin der Piratenpartei bundesweit bekannt, inzwischen ist sie Mitglied der Grünen. Im Interview mit Philipp Hedemann erklärt die gläubige Jüdin, warum sie ihren Davidstern abgelegt hat, wieso der Anschlag von Halle vor zwei Jahren sie nicht überrascht hat und welche antisemitischen Dimensionen Kritik an Israels Regierung haben kann.

Als Jugendliche haben Sie geschrieben, Deutschland sei eines der judenfreundlichsten Länder der Welt. Würden Sie das heute noch unterschreiben?

Nein! Zwar ist Deutschland – auch im Vergleich zu anderen europäischen Ländern wie Frankreich – für Juden immer noch eines der sichereren Länder. Aber auch Deutschland hat einen Antisemitismus-Problem. Ein ernstes!

Tragen Sie deshalb nicht mehr Ihre Davidstern-Kette?

Der Davidstern ist für mich vor allem ein religiöses Zeichen, ein Schutzschild. Ich bringe damit nicht notwendigerweise meine Zustimmung mit der gesamten Politik des israelischen Staates zum Ausdruck. Aber als im Frühling 2021 der Israel-Konflikt mal wieder eskalierte, habe ich online und auf der Straße einen deutlichen Anstieg von Antisemitismus verspürt. Da wollte ich nichts riskieren und habe die Kette abgelegt.

Raten Sie auch anderen Jüdinnen und Juden in Deutschland, ihre Religion in der Öffentlichkeit zu verbergen?

Ich würde niemals sagen: »Versteckt euch!« Oder: »Zeigt euch offen, auch wenn Ihr Angst habt.« Das muss jede und jeder für sich entscheiden. Allerdings: Wenn wir komplett unsichtbar werden, haben die Nazis gewonnen. Ihnen ging es ja auch während der Shoa um die Vernichtung der jüdischen Kultur und Identität.

Werden Sie im Internet antisemitisch beleidigt?
Ja. Der Hass kommt in Wellen. Manchmal erhalte ich Dutzende Zuschriften am Tag, manchmal über Wochen gar nichts. Immer wenn ich mich zu jüdischen Themen äußere, wird es mehr. Noch schlimmer ist es, wenn ich es wage, das Wort Israel zu erwähnen.

Rechtsextremer Antisemitismus, islamischer Antisemitismus oder linker Antizionismus: Was macht Ihnen am meisten Angst?

Antisemitismus ist Antisemitismus. Manche Antisemiten sind rechts, manche sind links, manche sind Muslime. Aber sie sind alle Antisemiten. Antisemitismus macht mir besonders dann Angst, wenn er bei Menschen gedeiht, die potentiel in Positionen der Macht sind. Und weil weder Linke noch Muslime in Deutschland in einer besonderen Machtposition sind, macht mir tatsächlich die rechte Ausprägung am meisten Angst. Und zwar nicht die der Rechtsextremen, sondern jene der Konservativen, die – um Wähler zu gewinnen – Geschichten erzählen, die Anschluss an rechten und rechtsextremem Antisemitismus herstellen sollen.

Wen meinen Sie konkret?

Ich meine unter anderem den rechten Flügel der Union. Und ganz konkret Leute wie Hans-Georg Maaßen. Er selbst muss kein Antisemit sein, selbst wenn er Codewörter rechtsextremer Antisemiten wie »Globalisten« verwendet. Auch wenn er zum Glück nicht in den Bundestag eingezogen ist – Rechte können in deutsche Parlamente einziehen und Macht übernehmen. Irgendwann schreiben sie vielleicht Gesetze, und dann haben sie eine Polizei, die Jüdinnen und Juden die Tür einrennen kann. Schon jetzt gibt es bei der Polizei Antisemitismus. Ich weiß es unter anderem deshalb, weil ich Drohbriefe erhalten habe. Die Absender hatten meine Adresse möglicherweise von einem Polizeiserver.

Welchen Einfluss hat die verstärkte Einwanderung aus muslimisch geprägten Ländern nach Deutschland seit dem Jahr 2015?

Der Nahost-Konflikt führt natürlich auch zwischen Juden und Muslimen in Deutschland zu gegenseitigem Misstrauen oder auch Ablehnung. Muslimischer Antisemitismus ist ein ernstes Problem. Aber die meisten Muslime in meiner persönlichen Umgebung erlebe ich als cool, nett und solidarisch. Es gibt eine gewisse Solidarität von marginalisierten Gruppen, die genau wissen, wie es ist, gehasst und verfolgt zu werden. Juden und Muslime sind zwei Minderheiten in einer Mehrheitsgesellschaft, die weder jüdisch noch muslimisch ist. Und ich glaube, wir könnten gemeinsam sogar einen Beitrag zum Frieden im Nahen Osten leisten, wenn wir es schaffen, uns hier im sicheren Deutschland zusammenzuraufen.

Steht importierter Antisemitismus dem nicht im Weg?

Viele frisch eingewanderte Muslime tragen natürlich noch ihre alte Staatsdoktrin in sich. In vielen muslimisch geprägten Ländern lernen die Kinder in der Schule, dass die Juden böse sind. Oft haben sie nie einen Juden persönlich kennengelernt. Das ist natürlich durchaus eine Gefahr.

Wie kann dieser Gefahr begegnet werden?

Durch Begegnung und Aufklärung. Dazu müssen wir uns auch in die Lage der muslimischen Einwanderer versetzen. Wenn ich als Immigrant in ein Land komme, dann erlebe ich ein Gefühl großer Machtlosigkeit und großen Kontrollverlusts. Ziemlich sicher erlebt man auch Rassismus und die Abwertung der eigenen Person. Ich war sieben Jahre alt, als ich aus der Ukraine nach Deutschland kam. Auch wenn ich natürlich nicht so viel Rassismus erlebt habe wie muslimische Migranten, spreche ich auch aus eigener Erfahrung. Das Gefühl der Ausgrenzung kann Frust und Wut erzeugen. Aus dieser Situation der Ohnmacht heraus ist es schwierig, Toleranz zu entwickeln. Wenn wir also wollen, dass muslimische Immigranten ihren anerzogenen Antisemitismus ablegen und sie kein Bedürfnis mehr haben, gegen Menschen zu hetzen, dann müssen wir ihnen hier mehr Achtung entgegenbringen.

Sie haben keine Berührungsängste gegenüber antisemitisch eingestellten muslimischen Jugendlichen?

Nein. Denn im Gegensatz zu Verschwörungstheoretikern sind diese Menschen gut zu erreichen. Sie haben kein emotionales Bedürfnis, Juden zu hassen. Die meisten muslimischen Jugendlichen haben nur eine vage Vorstellung, dass Juden böse sind. Aber wenn man sie mit echten Jüdinnen und Juden konfrontiert, sind diese Einstellungen relativ leicht zu verändern. Je jünger sie sind, desto leichter ist es. Über eine Form des Antisemitismus haben wir übrigens noch nicht gesprochen.

Welche?

In Deutschland gibt es einen pathologischen Philosemitismus. Er kann ganz leicht in Antisemitismus umschlagen, nach dem Motto »Wir werden den Juden Auschwitz nicht vergeben«. Diese besondere Form des Antisemitismus entsteht daraus, dass man den Juden die Schuld dafür gibt, sich mit dem Thema Holocaust auseinandersetzen zu müssen. Das ist so ähnlich, als wenn mich ein Mann anflirtet, ich ihn abweise und er mich dann dreckige Schlampe nennt.

An Jom Kippur 2019 versuchte ein rechtsradikaler deutscher Antisemit die Synagoge in Halle zu stürmen, um möglichst viele Juden zu töten. Als es ihm nicht gelang in die Synagoge einzudringen, erschoss er zwei Passanten. Wie hat der Anschlag Ihr Leben und das von Jüdinnen und Juden in Deutschland verändert?

Relativ wenig. Für viele Deutsche war Halle eine Zäsur, ein ganz gravierender Einschnitt, eine Überraschung. Für die meisten Jüdinnen und Juden war der Anschlag natürlich traumatisch, aber nicht wirklich überraschend. Wir haben damit gerechnet, dass irgendwann irgendwas passiert. Schließlich gab es auch schon zuvor unter anderem in Wuppertal und Münster antisemitische Anschläge.

Sie haben Ihr neues Buch »Frag uns doch! Eine Jüdin und ein Jude erzählen aus ihrem Leben« mit Eliyah Havemann geschrieben. Der Sohn des Liedermachers Wolf Biermann ist zum Judentum konvertiert und lebt als orthodoxer Jude in der Nähe von Tel Aviv. In Ihrem gemeinsamen Buch schreibt er: »Wir wittern überall Antisemitismus«. Sind viele Juden paranoid?

Wenn man ständig in Angst lebt, entwickelt man manchmal eine gewisse Empfindlichkeit. Andererseits schlagen wir manchmal früher Alarm, weil wir gewisse Entwicklungen früher registrieren. Wie gesagt: Der Anschlag von Halle hat uns nicht überrascht.

Wie sollte man mit Antisemitismus im Freundeskreis oder in der Familie umgehen?

Wir müssen lernen, wie wir andere aus Respekt und ehrlicher Zuneigung auf Antisemitismus hinweisen können. Der leichtere Weg wäre, es einfach zu ignorieren, aber das bringt uns nicht weiter. Allerdings sollte man niemals gleich sagen: »Du bist Antisemit!« Wir alle fürchten nichts mehr, als als Antisemiten abgestempelt zu werden. Werden wir als Antisemiten bezeichnet, weisen wir das deshalb entschieden zurück und das Gespräch ist in der Regel an dieser Stelle beendet. Denn etwas, das ich bin, kann ich nicht ablegen.

Wie sollte man stattdessen reagieren?

Man sollte lieber sagen: »Du hast etwas Antisemitisches getan oder gesagt.« Das kann auch unbewusst, aus Unkenntnis und unbeabsichtigt geschehen. Etwas, was ich gesagt oder getan habe, kann ich neu reflektieren, ablehnen und zurücknehmen. Es kann auch helfen zu betonen, dass man vielleicht selbst schon mal aus Versehen etwas Antisemitisches gesagt hat.

Ist Ihnen das auch schon passiert?

Ja. Wie die meisten Menschen bin ich in einer Welt aufgewachsen, in der es antisemitische Narrative gibt. Auch ich habe diese Geschichten verinnerlicht. Vielleicht habe ich deshalb, als ich viel jünger war, geschrieben, dass jüdische Gemeinden teilweise recht verschlossen seien und dass es deshalb nicht verwundern könne, dass eine Gesellschaft, die so wenig über Juden weiß, antisemitische Einstellungen entwickeln kann. Das war nichts anderes als internalisierter Antisemitismus. Ich habe im Prinzip Juden die Schuld für Antisemitismus gegeben. Das war eine klare Täter-Opfer-Umkehr.

Sollte der Besuch eines ehemaligen KZs für alle Schülerinnen und Schüler in Deutschland verpflichtend sein?

Ja! Über den Nationalsozialismus und die Shoa zu unterrichten, ist unfassbar schwierig und pädagogisch anspruchsvoll. Lehrerinnen und Lehrer können das alleine nicht leisten. Als ich zur Schule ging, mussten wir unter anderem auswendig lernen, wie viele Juden getötet wurden. Menschen wurden so auf Zahlen reduziert. Das erste Mal wirklich verstanden habe ich die Shoa, als wir mit der Schule das ehemalige Konzentrationslager Bergen-Belsen besucht haben.

Ihr Co-Autor schreibt, dass viele in Deutschland lebende Juden und Jüdinnen sich hier wie lebendige Museumsstücke fühlen. Gibt es kein lebendiges jüdisches Leben in Deutschland?

Doch, natürlich gibt es das. Es gibt Jugendzentren, Fußballmannschaften, Familienfeiern und noch so viel mehr. Aber wegen Sicherheitsbedenken findet das jüdische Leben in Deutschland nicht sehr öffentlich statt. Vielleicht erlebe ich es auch deshalb oft, dass viele Deutsche das Bedürfnis haben, Blumenkränze vor mir niederzulegen.

Wie meinen Sie das?

Ich meine metaphorische Blumenkränze. Zum Beispiel bekomme ich viele Briefe, in denen so Dinge stehen wie: »Ich bin ein großer Freund der Juden und finde es ganz toll und ganz bereichernd, dass sie hier sind.« Es scheint vielen Deutschen ein Bedürfnis zu sein, sich bei mir zu entschuldigen für eine Schuld, die sie fühlen, für die sie jedoch nichts können. Bei den Nachfahren der Täter gibt es offenbar viele unverarbeitete Traumata, die sie jetzt an uns adressieren.

Ist es in Deutschland möglich, Kritik an israelischer Politik zu üben, ohne Gefahr zu laufen, als Antisemit verunglimpft zu werden?

Absolut! Natürlich kann man sachliche Kritik an der israelischen Regierung üben. Es kann Antisemitismus sogar verstärken, wenn man so tut, als sei Israel ein heiliges Land, das überhaupt nichts falsch machen könne. Das ist objektiv einfach Bullshit! Dennoch gibt es in Deutschland viele Akteure – unter anderem Journalisten und proisraelische Lobbygruppen –, die sich jeglicher Andeutung von Kritik an Israel versperren. Ich halte das für falsch.

Üben Sie auch Kritik am israelischen Staat?

Ja, aber ich achte darauf, dass ich dabei nicht ein ganzes Land mit seinem ganzen Volk kritisiere. Ich kritisiere deshalb konkrete Maßnahmen oder konkrete Politiker. Bei Kritik an der israelischen Regierung gilt es, drei antisemitische Dimensionen zu vermeiden.

Welche Dimensionen sind das?

Erstens: Man darf Israel nicht dämonisieren, also als das absolut Böse darstellen. Zweitens darf man keine doppelten Standards anwenden. Das heißt, man sollte an Israel nicht andere Ansprüche stellen als an andere Länder, bei denen man über die gleichen Verbrechen vielleicht schweigen würde. Und drittens darf man Israel nicht delegitimieren, also in Abrede stellen, dass der Staat Israel überhaupt existieren solle.

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