EU-Kommission will Schuldenregeln lockern

In Brüssel hat der Streit darüber begonnen, woher das viele Geld für Zukunftsinvestitionen kommen soll

  • Hermannus Pfeiffer
  • Lesedauer: 4 Min.

Schuldenregeln erscheinen abstrakt - aber sie haben konkrete Auswirkungen auf das Leben jedes Einzelnen. Eine strikte Schuldenobergrenze von 60 Prozent erfordert einen scharfen Sparkurs, der sich etwa in einer Anhebung des Renteneintrittsalters auswirken kann. Liegt der tolerierte Spielraum in einem Land dagegen bei beispielsweise 100 Prozent, sind plötzlich Steuersenkungen oder Experimente mit einer Vier-Tage-Wochen bei vollem Lohnausgleich drin, wie sie in einigen EU-Ländern erprobt werden. Vor diesem Hintergrund schauen Ökonomen und Politiker gespannt nach Straßburg, wo die EU-Kommission am Dienstag ein Diskussionspapier zu neuen Schuldenregeln vorstellte. In dem Papier fordert die Kommission »einfachere fiskalische Regeln« und eine »bessere Umsetzung«. Das lässt viel Spielraum für eine umfangreiche Überarbeitung der Regeln, wie sie einige Finanzminister vehement fordern.

Mit sehr viel Geld für Kurzarbeit, Unternehmensbeihilfen und Kapitalspritzen für bedrohte Branchen haben die EU-Staaten ihre Wirtschaft durch die Coronakrise geschleust. Das hat nach Angaben des italienischen EU-Kommissars Paolo Gentiloni zu einem Anstieg der durchschnittlichen Staatsverschuldung in der EU auf rund 100 Prozent der Wirtschaftsleistung geführt. Beispielsweise in Italien stieg die Verschuldung wegen massiver Corona-Hilfen sogar auf 160 Prozent.

Dabei gibt es eigentlich klare Regeln. Der Maastrichter Vertrag, den die Regierungschefs 1992 im niederländischen Maastricht unterzeichneten, regelt unter anderem die Neuverschuldung und den Schuldenstand, den alle Euro-Beitrittsländer als »Konvergenzkriterien« erreichen sollten. Der Stabilitäts- und Wachstumspakt sollte ab 1997 dafür sorgen, dass die EU-Länder eine solide Haushaltspolitik verfolgen, und der Vertrag von Lissabon regelt seit 2007 die Nicht-Haftung innerhalb der Europäischen Union für Verbindlichkeiten anderer Mitgliedstaaten. Oberstes Ziel ist demnach maximal drei Prozent Neuverschuldung und 60 Prozent Gesamtverschuldung.

Das sind Vorgaben, die nach Angaben des EU-Statistikamtes selbst die Konjunkturlokomotive Deutschland mit 5,6 und 71 Prozent deutlich verfehlt. Was nicht alleine eine Folge der Coronakrise ist. Schon vor der Pandemie rissen die meisten EU-Staaten die Verschuldungshürden. Dabei waren es ausgerechnet Deutschland und Frankreich, die in den 2010er Jahren als erste massiv gegen die Maastricht-Kriterien verstießen.

Noch sind die strikten Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts wegen der Coronakrise vorläufig bis Ende 2022 ausgesetzt. Einige Staaten wollen die Ausnahmeregelung verlängern. Spanien, Italien oder Frankreich argumentieren darüber hinaus, man werde nicht mehr zu den gleichen fiskalischen Regeln und Zielmarken wie vor der Pandemie zurückkehren können.

Frankreich zum Beispiel wird, nach neun Prozent in diesem Jahr, 2022 immer noch fünf Prozent Neuverschuldung aufweisen. Die bisherigen Vorgaben seien »offensichtlich obsolet«, argumentiert der französische Ressortchef Bruno Le Maire. »Wir müssen eine andere Methode finden, andere Regeln.« Auch der deutsche Chef des Euro-Krisenfonds, Klaus Regling, warb nun im Gespräch mit dem »Spiegel« für eine Anpassung der nicht mehr zeitgemäßen Regeln zum Schuldenstand.

Ausdrückliche Warnungen vor einer Aufweichung des Regelwerkes kamen dagegen aus einer Gruppe von acht Ländern, unter ihnen Österreich, die Niederlande und die skandinavischen Länder. Ihre Finanzminister hatten einen Brandbrief an ihre Amtskollegen verfasst und auf den »Abbau exzessiver Schulden« gedrungen. Die EU-Kommission erwartet für dieses Jahr im Euroraum ein durchschnittliches, wohl »exzessiv« zu nennendes Haushaltsdefizit von acht Prozent.

So zeichnet sich nun in Europa eine Kompromisslinie ab. Der österreichische Haushaltskommissar Johannes Hahn wirbt für eine Art Stresstest für die Schulden der Mitgliedstaaten, um dann maßgeschneiderte Empfehlungen für die Länder abzugeben. Und es gibt eine Reihe von EU-Finanzminister und Finanzministerinnen, die vorschlagen, »gute« Schulden für Investitionen zum Beispiel in den Klimaschutz aus der Schuldenbilanz herauszurechnen.

Entspannung für die Schuldenbilanz schafft ohnehin der Brüsseler Wiederaufbaufonds, der mit 750 Milliarden Euro den EU-Staaten beim Neustart der Wirtschaft nach der Corona-Pandemie helfen soll. Zur Finanzierung wird die Europäische Kommission im Namen der EU auf den Finanzmärkten Geld aufnehmen - an allen Schuldenbegrenzungen vorbei.

Bis Ende des Jahres können sich Interessierte zum am Dienstag veröffentlichten Diskussionspapier der Kommission äußern. Konkrete Vorschläge dürfte EU-Präsidentin von der Leyen dann nach der französischen Präsidentschaftswahl im kommenden Frühjahr veröffentlichen. Ab dem Jahr 2023 sollen dann die wohl gelockerten Schuldenregeln gelten.

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