Heute ist große Boykottbereitschaft

Victoria Wolff zeichnet die Fremdmachung in Deutschland nach

  • Lesedauer: 10 Min.

Seit Generationen schon leben die protestantische Kaufmannsfamilie Dortenbach und die jüdische Fabrikantenfamilie Martell in der kleinen württembergischen Weinstadt. Fest und liebevoll verbunden fühlen sich Claudia Dortenbach und ihr Jugendfreund und späterer Ehemann, der Rechtsanwalt Dr. Helmuth Martell, daher Land und Leuten, Natur und Kultur ihrer schwäbischen Heimat. Familie, Kinder und Karriere laufen in den vorgezeichneten und gewünschten Bahnen: Die Martells fühlen sich sicher eingeordnet und sehr zufrieden.

Umso fassungsloser erlebt Claudia Martell das Erstarken und die Etablierung des Nationalsozialismus in der kleinen Stadt, die rasante Entfremdung und abrupte Abkehr von ihr einst vertrauten Menschen, langjährigen Freundinnen und Freunden, Vereinskameradinnen und -kameraden, ja engsten Familienmitgliedern unter dem wachsenden Einfluss der NS-Diktatur. Erst allmählich vermag sich die junge Frau aus ihrer inneren Lähmung zu lösen. Entschlossen und mutig findet sie für sich und ihre bedrohte Familie, den Mann und die beiden Kinder, schließlich ihren Weg aus den radikal veränderten Verhältnissen eines ihr fremd gewordenen Landes.

Über das Leben Victoria Wolffs und über die Autorin

Victoria Wolff, 1903 als Tochter eines jüdischen Lederfabrikanten in Heilbronn geboren, verfasste Reportagen und Reiseerzählungen, bereiste als Reporterin halb Europa und das revolutionäre Russland. 1932 veröffentlichte sie einen Roman über George Sand; weitere Romane über die Lebenswelten moderner Frauen folgten. 1933 emigrierte sie aus Deutschland und veröffentlichte nun vor allem in der Schweiz, musste das Land jedoch 1939 wegen ihrer illegalen schriftstellerischen Tätigkeit verlassen. Über Nizza und Lissabon gelangte sie 1941 in die USA, wo sie als Drehbuchautorin für Hollywood arbeitete und 1992 in Los Angeles starb.

Anke Heimberg, 1967 in Pforzheim geboren, studierte Germanistik, Soziologie und Medienwissenschaften in Marburg und Wien. Sie lebt und arbeitet als freie Literaturwissenschaftlerin und Publizistin in Berlin. Derzeit arbeitet sie an einer Biografie zu Lili Grün.

Der Roman »Gast in der Heimat« erschien Ende 1935 im renommierten Amsterdamer Exilverlag Querido. 1936 wurde er mit dem »Nachtrag I zur Liste 1 des schädlichen und unerwünschten Schrifttums« indiziert und in Deutschland verboten. 85 Jahre nach seinem Verbot erscheint der Roman nun erstmals als deutsche Buchausgabe mit einem informativen und aufschlussreichen Nachwort von Anke Heimberg.

Und dann kam der 1. April. Er brachte fertig, zu kommen wie all die Tage vor ihm und all die Tage nach ihm, er kümmerte sich nicht darum, was die Menschen aus ihm machten; er war da. Ich aber war plötzlich nicht mehr da. Ich war ausgelöscht.

Auf der Straße war klingender Lärm. Singend zogen Uniformen von allen Seiten auf. Sie trugen Fahnen. Ich ging vom Fenster weg; ich wollte auch auf diese Straße. Wer durfte wagen, sich heute zu drücken? Draußen geschah etwas!

An der Tür stieß ich auf Lisbeth Krämer. Sie war in fahriger Hast: »Komm nochmal ins Zimmer, Claudia«, bat sie atemlos. »Ich muß dir etwas sagen.«

Ich dachte zuerst an Ranke.

»Jakob Martell ist in Schutzhaft genommen worden. Heute früh um fünf, man hat ihn aus dem Bett geholt. Weißt du schon? Nein? Helmuth auch nicht? Sie sagten, sie wollten ihn vor der Wut seiner Arbeiter schützen, die wegen der neuen Lohnverhandlungen unruhig seien. Das ist natürlich eine Finte, weiter nichts. Jakob habe sich streng an die Tarife des Verbandes gehalten, sagte Vater.«

Lisbeth keuchte. »Paul ist schon von Stelle zu Stelle gerannt, er war auf dem Braunen Haus, auf dem Arbeitsgericht, auf der Polizei, bei den Schwarzen Husaren, alles vergebens. Heute ist große Boykottbereitschaft, vor Montag gibt’s keine Hilfe. Und Erna liegt zu Hause in einem Weinkrampf.«

Je hastiger Lisbeth war, umso ruhiger wurde ich. Was nutzte unsere ganze Kraft?

»Und nun?« fragte Lisbeth; sie zerknüllte Zigaretten wie Papier und setzte sich von einem Stuhl auf den anderen. »Das Schlimmste ist, daß man keinem telefonieren kann, ich wollte doch von einem vernünftigen Mann einen vernünftigen Rat, aber alles wird abgehört, und wenn Papa oder Onkel Josef bloß meine Stimme erkennen, hängen sie sofort ein, aus Angst, ich könnte ein unbedachtes Wort sagen. Wenn einer Frau in meiner Lage das Telefon geraubt ist, ist ihr alles geraubt. Glaubst du, ich soll zu Helmuth aufs Büro gehen? Helmuth ist sicher noch der Kühlste von allen.«

»Gut«, sagte ich, »gehen wir, zu Haus bleiben ist sinnlos.« Auf der Straße schwiegen wir. Unsere Beine gingen.

Die Häuser waren ausgeräumt und alle Menschen, wie bei der Mobilmachung, auf die Straße geschüttet. In der Königstraße wurden die großen, eisernen Läden vor den Schaufenstern der beiden Warenhäuser heruntergelassen. Schutzpolizisten hielten die Eingänge besetzt. Ein Kameramann in Uniform photographierte die Ein- und Ausgehenden. Nebenan bei Brändle, Kolonialwaren, wurden große, rotbedruckte Zettel an die Türen geklebt ›rein deutsches christliches Familienunternehmen, seit 60 Jahren im gleichen Besitz‹. Vor dem Anwaltsbüro Rosen standen zwei SA-Leute; junge Burschen klebten unter ihrer Aufsicht kleine weiße Zettel: »Die Juden sind unser Unglück«, rund um das Blechschild. Auf der anderen Seite beim Schuhhaus Müller wurde soeben die neue Fahne gehißt. Trotzdem drängten sich Leute in den Laden und forderten, daß man die eine Angestellte, von der man wisse, daß sie nicht arisch sei, entlasse.

Vor Helmuths Büro standen zwei uniformierte Leute; sein Schild war gelb verklebt. Von dem Schild »Wer zum Juden geht, schädigt Deutschland« waren »schädigt« und »Deutschland« verstümmelt und halb herausgekratzt; es mußte sich jemand die Mühe gemacht haben, diese Behauptung mit spitzen Nägeln zu entkräften. Aber Druckerschwärze, Papier und Klebstoff waren Sieger geblieben.

»Was wollen Sie?« fragte der Wachthabende und musterte Lisbeth von oben bis unten.

»Ich will zu Doktor Martell.«

»Sind Sie Arierin?«

»Nein.«

»Dann können Sie passieren.«

»Und Sie«, fragte er mich.

»Ich warte hier.«

»Gut«, sagte er, »ich auch.«

Lisbeth ging ins Haus; ich stand stumm neben dem uniformierten Mann und war mir nicht bewußt, daß ich den Anschein erweckte, als hielte ich hier Wache. Ich war ohne Gedanken. Eine Stimme rüttelte mich auf: »Bist du verrückt, Claudia?«

Es war Vater, der sich nach Helmuth umsehen wollte.

»Wohin gehen Sie?« fragte der braune Soldat mechanisch.

»Das hängt von dieser Dame ab«, sagte Vater und zog mich ein paar Schritte weiter.

»Du siehst aus, als wärst du mondsüchtig, Claudia, ist etwas geschehen?«

»Ist dir noch nicht genug geschehen, Vater? Hier und hier und hier?«

»Also nichts Spezielles, dir oder Helmuth oder den Kindern?«

»Nein, nichts Spezielles, außer daß Jakob Martell in Schutzhaft genommen wurde, Lisbeth ist oben bei Helmuth; ich warte auf sie.«

»Na, dann ist’s gut, Kind.«

»Du bist erstaunlich, Vater.«

»Soll ich etwa hier, auf offener Straße, meine politische Beichte abgeben, Kind? Humor hat nur dann einen Sinn, wenn er auch am 1. April einen Scherz findet. Im übrigen wird heute eine Tat gesät, die die Kinder dieser Sämänner einst mit ihrem Blute büßen müssen. Und es ist wichtig, Claudia, daß deine Kinder dann einmal nicht dabei sind. Alles, was wir sonst heute sagen könnten, ist sinnlos; aber dafür müssen wir uns umso genauer umsehen und müssen alles merken; wir dürfen kein Jota vergessen. Übrigens steht dein Bruder in neuer Uniform vor dem Kontor von Fürst & Co.«

»Du darfst Helmuth nicht erzählen, daß ich hier unten stehe, Vater, bitte.«

»Ich bin kein Verräter«, sagte er, und wandte sich zu dem fragenden Braunhemd: »Ich bin Arier, Schwiegervater von Doktor Martell, also kein Klient.«

»Können passieren«, sagte jener militärisch.

Vater schaute vom Treppenabsatz noch einmal zu mir zurück und nickte. Er mußte Lisbeth auf halber Höhe begegnet sein, sie trat eben aus der Tür.

»Helmuth hat überall hin telefoniert und geht nachher persönlich aufs Braune Haus; er kennt den Kreisleiter der NSDAP und den neuen Kommissar, der heute der Mann sein soll. Auch an den Anwalt der Partei hat er sich gewandt; aber es ist fast unmöglich, vor Montag an einen dieser Herren persönlich heranzukommen; sie sind alle besetzt. Und nun?«

»Es gibt nur eins für dich, Lisbeth, selbst aufs Braune Haus zu gehen.«

Ich spürte, wie mir Vater wohlgetan hatte. Eigentlich kam dieser Rat von Vater.

»Meinst du?« fragte sie, »kann ich das so ohne weiteres...«

»Du mußt, Lisbeth! Eine Frau kann viel mehr als zehn Männer, wenn sie nur will.«

»Man kennt mich doch hier überall, keiner wird mich eine Türe weit vorlassen!«

»Gerade weil man dich kennt, mußt du’s wagen, ich begleite dich.«

Wir eilten zurück durch die Marktgasse, über den Kirchplatz, die Ulmerstraße entlang bis zum Braunen Haus, wo eben eine klingende Kapelle abzog. Rings um den Eingang hingen Schaukästen mit Bildern. Rot unterstrichen starrte uns die Schlagzeile einer Zeitung entgegen: »Die Stunde der Rache ist gekommen.«

Ameisenhaft lief es durch diese Tür. Junge Burschen eilten mit erhobener Rechte, blieben stehen, schlugen die Hacken zusammen, sagten einige Worte und hasteten weiter. Andere rannten aus dem Haus, setzten sich auf Räder und in Autos und fuhren weg. Frauen sah man keine in weitem Umkreis. Lisbeth riß sich plötzlich los, eilte wie die Andern zu der Türe, rief der Wache etwas zu und verschwand.

Nach zwei Stunden kam Lisbeth. Sie fragte mich, was ich denn um Gotteswillen hier unten getrieben hätte. »Nichts«, sagte ich und so war es auch. Es hatte getrieben. Nicht ich.

»Du bist eine«, sagte Lisbeth, und dann erzählte sie, daß sie im vollgepfropften Wartezimmer des Kommissars so lange gewartet habe, bis er selbst einmal herausgekommen sei, um sich umzusehen. Dann sei sie ihm einfach nachgelaufen. In seinem Zimmer hatte sie ihm dann einen Vortrag gehalten über Ansehen und Alter der Familie Martell, die schon seit 1856 ortsansässig sei und seit 1803 im Deutschordensgebiet der Umgebung gelebt hätte. Seit mehr als sechs Generationen habe die Familie Martell deutsche Kultur in sich aufgenommen, habe fünf Angehörige in den Krieg geschickt, zwei davon seien gefallen. Und noch nie sei auch nur ein einziger mit dem deutschen Gericht in Konflikt gekommen. Es müsse ein Irrtum vorliegen, ein durch die viele Arbeit begreiflicher Irrtum, daß man sich an Jakob Martell herangemacht habe. Jakob Martell sei Westfrontkämpfer, habe das E.K., und vor allem sei er ein Freund seiner Arbeiter, da könne man fragen, wo man wolle.

Der Kommissar habe darauf gesagt, die Angehörigen aller in Schutzhaft befindlichen Juden hätten ihm eine solch bestrickende Darstellung dieser Rasse gegeben, daß er glauben könne, diese Rasse bestehe überhaupt nur aus edlen Menschenfreunden.

»Dann aber bin ich aufgestanden und habe gesagt: ›Schauen Sie mich bitte einmal an, mein Herr, ich habe so blonde Haare und so blaue Augen wie Sie! Mein Bruder hat drei Jahre als deutscher Soldat gekämpft. Damals hat man auch nicht nach der Rasse gefragt! Damals war jeder recht. Als ich kam, habe ich gedacht, ich hätte es mit einem Menschenkenner zu tun, denn dieser Ruf geht Ihnen voraus; nun aber ...‹

Und das hat gewirkt, Claudia; er ist aufgestanden, hat irgend etwas Beschwichtigendes gesagt, hat seinem Sekretär geklingelt, er möge den Fall Martell sofort prüfen und ihm vorlegen, und dann haben wir uns die Hände gegeben, hier ›Heil Hitler‹, hier ›Grüß Gott‹ und sind auseinandergegangen, und ich glaube, der Fall Martell liegt weniger hoffnungslos.«

»Du bist großartig«, sagte ich, »es wird sicher nützen.«

»Auch wenn es nichts nützt, fühle ich mich wohler«, sagte Lisbeth, »ohne dich hätte ich den Mut nicht gehabt.«

»Man hat immer mehr Mut für andere, Lisbeth. Ich werde schon auch einmal zu dir kommen.«

Wir gingen durch kleine Gassen heim. Eine Uhr schlug eins. Widerliche Sonne lag über dem unsinnigen Gebaren einer verrückt gewordenen Menge. Vor dem Zigarrenladen von Philipp Weil auf der großen Bleiche standen die beiden jungen Inhaber in feldgrauer Uniform und verteilten gedruckte Zettel an die Vorübergehenden: »Wir sind Kriegsteilnehmer, dreimal verwundet gewesen, Inhaber der württembergischen Verdienstmedaille, des eisernen Verwundetenabzeichens und des Eisernen Kreuzes. Wir haben dem Vaterland stets treu gedient; wir verwahren uns dagegen, daß wir zum Unglück des Deutschen Volkes beigetragen haben.«

Auch Lisbeth und mir drückten sie einen Zettel in die Hand und grüßten ernst.

»Fabelhafte Idee«, sagte Lisbeth leuchtend; »siehst du, keiner wagt sich an sie heran. Kein einziger Zettel klebt am Haus. Ich hätte das den Weil-Jungens gar nicht zugetraut; ich will mir rasch bei ihnen Zigaretten kaufen.«

»Vielleicht sitzen sie heute Nachmittag schon in Schutzhaft«, sagte ich, »dann kannst du ja wieder für sie zum Kommissar rennen.«

Lisbeth sah mich entsetzt an: »Heute spinnen alle Leute.«

Victoria Wolff
Gast in der Heimat
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Anke Heimberg.
Aviva-Verlag 336 S., geb., 22 €

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