Spahns Offenbarungseid

Kurt Stenger über die vernachlässigten Boosterimpfungen

Es wird viel diskutiert über die Leute, die sich immer noch nicht gegen Covid-19 impfen lassen wollen. Besser wäre es aber jetzt, über die große Mehrheit zu sprechen, die dies freiwillig tut. Speziell über die Alten und anderen vulnerablen Gruppen, für die die Ständige Impfkommission (Stiko) wegen des nachlassenden Immunschutzes eine dritte Impfung empfiehlt, deren Wirkung gut belegt ist. Ein gewisser Jens Spahn hat dies nun getan und in einem Radiointerview dazu aufgerufen, angesichts der Corona-Lage das Angebot von Auffrischungen zu nutzen.

Nun ist Herr Spahn aber nicht etwa ein Landarzt oder ein Seniorenverbandsvertreter, sondern noch immer Bundesgesundheitsminister. In dieser Funktion müsste er in der Pandemie bundesweite Maßnahmen koordinieren und sich um den Erfolg einer Impfkampagne kümmern. Doch eine solche gibt es gar nicht: Nachdem die Stiko vor knapp einem Monat ihre Empfehlung abgab, passierte politisch nichts. Die Impfzentren sind ja aufgelöst, die Leute müssen sich selbst kümmern – Punkt. Und so kommt die zweite Boosterimpfung eher schleppend voran.

Dabei müssten angesichts des Infektionsgeschehens und den laut offiziellen Zahlen aktuell rund 120 Ausbrüchen in Alten- und Pflegeheimen die Alarmglocken in Bund und Ländern schellen. Bei den über 60-Jährigen werden derzeit wieder die meisten Krankenhauseinweisungen verzeichnet – die Alten haben nach wie vor das höchste Sterberisiko. Bei diesen müsste es zügig mit den Impfungen vorangehen, damit wir deutlich besser durch den Winter kommen als 2020/21.

Angesichts dessen ist es ein gesundheitspolitischer Offenbarungseid, wenn Minister Spahn jetzt lediglich einen Aufruf zum Impfen absetzt. Es sieht danach aus, als ob er sein Abschiedsgeschenk an die Regierungsnachfolger nicht gefährden möchte – die Beendigung der »epidemischen Lage von nationaler Tragweite«. Wenn man diese nicht mehr sieht, braucht man auch keine Impfkampagne.

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