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»Das Leben und die Politik sind extrem militarisiert«

Die linke Abgeordnete Talíria Petrone über Brasilien unter dem rechtsradikalen Präsidenten Bolsonaro und Fehler aus der Vergangenheit

  • Niklas Franzen
  • Lesedauer: 8 Min.

Die Corona-Pandemie hat Brasilien hart getroffen. Eine Reihe von Senator*innen will Präsident Jair Bolsonaro aufgrund seiner Politik wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit anklagen. Wie beurteilen Sie das?

Bolsonaro hat sich schwere Verbrechen zuschulden kommen lassen. Das hat zuletzt ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss offengelegt. Wir durchleben derzeit die schwerste Gesundheitskrise unserer Generation, und Bolsonaro sagt, er müsse keine Maske tragen, verbreitet Fake News und leugnet die Gefahren der Pandemie. Einmal hat er sogar einem Kind die Maske vom Gesicht gezogen. Erst gestern, Brasilien hat mehr als 600 000 Corona-Tote zu beklagen, wagte er es, die Lüge zu verbreiten, dass Impfungen HIV-Infektionen verursachen würden. Das ist unfassbar. Bolsonaro offenbart ein Brasilien des Horrors. Deshalb ist es richtig, von Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu sprechen. Bolsonaro muss verurteilt werden.

Talíria Petrone
Talíria Petrone ist seit 2018 Bundesabgeordnete für die Partei Sozialismus und Freiheit (PSOL). Vorher setzte sie sich an der Seite der ermordeten Stadträtin Marielle Franco im Stadtrat von Rio de Janeiro für die Schwarze Bevölkerung, LGBTQI* und die feministische Bewegung ein. Im Nationalkongress beschäftigt sie sich vor allem mit den Themen öffentliche Sicherheit und Menschenrechtspolitik. Über die aktuelle Lage im Land sprach mit ihr Niklas Franzen.

Einige fordern eine Amtsenthebung. Dafür wird eine Zweidrittelmehrheit im Kongress benötigt. Die gibt es aber derzeit nicht.

Ja, das Abgeordnetenhaus mit seinem Präsidenten Arthur Lira sorgt dafür, dass ein Amtsenthebungsverfahren gegen Bolsonaro derzeit leider unwahrscheinlich ist. Das ist sehr bitter. Wir hoffen deshalb, dass der Albtraum Bolsonaro mit der Wahl 2022 vorbei ist.

Auch falls Bolsonaro im nächsten Jahr nicht wiedergewählt werden sollte, hat der »Bolsonarismus« das Land verändert. Und 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung stehen treu hinter ihm. Die Verehrung dieser Menschen für Bolsonaro hat etwas Sektenartiges. Wie sollte man damit umgehen?

In der Bevölkerung sinkt die Zustimmung für Bolsonaro, aber es stimmt: Seine Anhänger bleiben ihm treu. Wir müssen uns fragen, woher das kommt. Wir durchleben derzeit eine schwere Krise der Demokratie, man kann es Protofaschismus nennen, wenn man so will. Woher das kommt? Brasilien hat sich nie seiner Vergangenheit gestellt. Das Leben und die Politik sind extrem militarisiert. Ich werde Lula (Ex-Präsident und voraussichtlicher Kandidat bei der Wahl 2022, Anm. d. Red.) bei der nächsten Wahl unterstützen, aber auch während der Amtszeiten seiner Arbeiterpartei PT gab es zum Beispiel Militärinterventionen in den Favelas in Rio de Janeiro. Wir haben uns zudem nicht ausreichend mit den Rechten von Frauen auseinandergesetzt. Das fundamentalistische Brasilien wurde nie überwunden. Was wir brauchen, ist vor allem eine Sozialpolitik, die den Hunger bekämpft und Arbeit schafft. Wenn wir das nicht erreichen, geben wir dem Bolsonarismus Munition. Denn in Zeiten von schweren Krisen inszeniert sich dieser als Verteidiger von Moral und Familie. Das sind Gefühle, die bei vielen Brasilianern ankommen.

Wie kommt man konkret gegen den Bolsonarismus an?

Durch eine Einheit des demokratischen Lagers.

Aber die Versuche, ein breites Bündnis zu schmieden, sind gescheitert. Die Linke wirkt schwach, und es ist nicht wirklich gelungen, eine Massenbewegung auf die Straße zu bringen.

Das stimmt. Die Pandemie hat die Situation extrem erschwert. Unser Thermometer war immer die Straße. Lange Zeit war es schlicht nicht möglich zu demonstrieren. Das erklärt aber nicht alles: Es gibt eine große Fragmentierung der brasilianischen Linken. Aber zumindest in Hinblick auf die Wahl 2022 haben wir Hoffnung, und die heißt: Lula. Vielleicht gelingt es uns, mit seiner Kandidatur die Linke wieder zusammenzubringen.

Lula führt in den Umfragen mit klarem Vorsprung, Bolsonaro steckt derzeit in einer schweren Krise. Ist die Wahl schon gelaufen?

Bolsonaro wird sich erholen können, zum Beispiel, wenn er wie geplant ein neues Sozialprogramm vorstellt. Außerdem: Wenn der Markt erkennt, dass Bolsonaro besser für ihn ist als Lula, werden sie mit Sicherheit wieder Bolsonaro unterstützen.

Nicht wenige halten im Falle der Wahlniederlage Bolsonaros einen Putsch für möglich. Wie sehen Sie das?

Im Moment ist das nicht sehr realistisch, aber ich will es nicht ausschließen. Am 7. September gingen Bolsonaros Anhänger auf die Straße. Viele Linke haben die Proteste als Fiasko und Flop bezeichnet. Das halte ich für einen Fehler. Dass eine ausdrücklich antidemokratische und rassistische Bewegung mehr als 100 000 Menschen auf die Straße mobilisiert, ist beängstigend. Es gibt Kräfte in Brasilien, die putschen könnten, zum Beispiel Polizisten. Die meisten waren am 7. September nicht auf der Straße (in Brasilien dürfen Militärpolizist*innen nicht demonstrieren, Anm. d. Red.), aber viele standen hinter den Protesten. Das Problem mit der Polizei: Sie ist bewaffnet. Es ist kein Zufall, dass Bolsonaro für die Lockerung der Waffengesetze kämpft. Noch einmal: Bisher ist ein Putsch eher unwahrscheinlich, aber wir müssen es dennoch ernst nehmen und sehr gut aufpassen.

Auf Ihrer Homepage charakterisieren Sie Ihr Mandat als »schwarz, feministisch, LGBT«. Wie ist es für Sie als schwarze Feministin in der Politik mitzumischen?

In der institutionellen Politik ist historisch kein Platz für Menschen wie mich. Öffentliche Positionen sind in Brasilien nicht für schwarze Frauen vorgesehen. Brasilien hat drei Jahrhunderte der Sklavenzeit durchlebt und hatte mehr als eine Diktatur. Das hat tiefe Spuren hinterlassen. Als linke Frau Politik zu machen, ist eine große Herausforderung, vor allem, wenn man schwarz ist. Unsere Mandate fordern die Machtverhältnisse heraus.

In Deutschland wird viel über einen vermeintlichen Widerspruch zwischen »Identitätspolitik« und »Klassenpolitik« diskutiert. Wie ist das in Brasilien?

Die Debatte ist eine große theoretische sowie praktische Herausforderung für die Linke weltweit. Ich persönlich kann nicht an die Kategorie Arbeiter denken, ohne Geschlecht und Ethnie in Betracht zu ziehen. Gerade in Brasilien ist das unmöglich. Ein Land, das drei Jahrhunderte der Sklaverei hinter sich hat. Auch hier benutzen einige abwertend den Begriff der Identitätspolitik. Sie meinen, damit würde die Arbeiterklasse gespalten. Aber es ist doch so: Die heutige Arbeiterklasse Brasiliens hat nur wenig mit der in den Fabriken Europas im 19. Jahrhunderts zu tun. Die Arbeiterklasse in Brasilien ist schwarz und weiblich. Hier gibt es elf Millionen alleinerziehende Mütter, 63 Prozent davon sind schwarz, mehr als 60 Prozent gelten als extrem arm. Diese Frauen arbeiten als Hausangestellte und an der Supermarktkasse. Das ist die brasilianische Arbeiterklasse. Diejenigen, die solche Fragen als Identitätspolitik abtun und den strukturellen Rassismus der Gesellschaft verkennen, werden niemals die Klassenverhältnisse verstehen.

Die Rechte war in Brasilien sehr erfolgreich darin, ein »Feindbild links« zu konstruieren. Welche konkreten Auswirkungen hat das im politischen Alltag?

Ein Teil unserer Arbeit verbringen wir damit, Angriffe abzuwehren. Ich komme kaum noch zur Ruhe. Es gibt Attacken in den sozialen Medien, aber auch konkrete Angriffe auf unsere Parteibüros. Außerdem erlebe ich symbolische Gewalt. Hier im Abgeordnetenhaus wird mir oft am Eingang der Zutritt verweigert - gestern alleine viermal. Frauen stellen hier nur 15 Prozent, schwarze Frauen noch nicht mal zwei Prozent. Für viele ist es nicht normal, dass ich Abgeordnete bin. Bei meinem Amtsantritt haben sie mich erst hereingelassen, als sie meine blonde, weiße Mitarbeiterin gesehen haben. Darüber hinaus werde ich von den Milizen bedroht.

Sie reden von paramilitärischen Banden, die sich aus ehemaligen und noch im Dienst befindenden Polizisten zusammensetzen und viele arme Stadtteile in Rio de Janeiro mit Waffengewalt kontrollieren.

Genau. Heute werde ich rund um die Uhr bewacht. Wenn ich zur Bäckerei gehe, brauche ich ein gepanzertes Fahrzeug. Früher bin ich mit dem Bus oder dem Fahrrad zum Stadtrat gefahren. Das ist heute unmöglich.

Sie klagen seit langem die Milizen, ihre Verbindungen in den Staat und die gescheiterte Sicherheitspolitik Rio de Janeiros an. Im vergangenen Jahr mussten Sie Ihre Heimatstadt verlassen. Warum?

Seit 2019 bekomme ich Polizeischutz. Damals wurde ein Plan aufgedeckt, mich zu ermorden. Als ich im vergangenen Jahr im Mutterschutz war, mein Baby war drei Monate alt, bekam ich einen Anruf. Man sagte mir, es habe ein Treffen von Milizen gegeben, wo meine Hinrichtung diskutiert wurde. Ich habe schon immer die Milizen kritisiert, ebenso das Modell der öffentlichen Sicherheit Rio de Janeiros. Drohungen waren nicht neu für mich. Doch diesmal sind unabhängig voneinander mehrere Anrufe beim disque denúncia (ein Bürgertelefon, wo Bürger*innen anonym Verbrechen melden können, Anm. d. Red.) eingegangen, die die Pläne mich zu töten, bestätigten. Danach haben wir entschieden, dass ich in Rio de Janeiro nicht mehr sicher bin. Mit meiner Familie bin ich nach Brasília gezogen. Heute bin ich Teil eines Schutzprogramms.

Wie fühlt sich das an?

Furchtbar. Es hat mir alles geraubt, wofür ich stehe: Ich bin eine spontane Person, gehe gerne aus, bin fröhlich. Heute muss ich alles planen. Mein Leben hat sich komplett verändert. Mein Fall zeigt, wie fragil die brasilianische Demokratie ist.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen der zunehmenden Gewalt und der Bolsonaro-Regierung?

Kein Zweifel. Bolsonaro rechtfertigt und autorisiert die Gewalt, die wir erleben. Wenn der Präsident sagt, dass er lieber einen toten als einen schwulen Sohn hätte oder rassistische Witze macht, gibt er zu verstehen, dass es in Ordnung ist, auch Gewalt anzuwenden. Und die Auswirkungen sind zu sehen: Die politische Gewalt in Brasilien ist seit seinem Amtsantritt stark gestiegen.

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