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Ländliches Idyll als Corona-Hotspot

Der niederbayerische Landkreis Rottal-Inn hatte tagelang die bundesweit höchsten Inzidenzwerte. Warum dies so ist, weiß niemand so ganz genau

Saftige grüne Wiesen, sanfte Hügel, stille Flussläufe und Ortschaften, deren Bild vom Kirchturm geprägt ist: Der Landkreis Rottal-Inn ist ein ländliches Idyll. Fernab vom Massentourismus und dem Trubel der Großstädte wirbt man hier mit dem Slogan der »niederbayerischen Toskana« vor alle um Kurgäste. Neben Ruhe und Beschaulichkeit gibt es einige Kirchen und Kapellen aus der Zeit der Spätgotik im 14. und 15. Jahrhundert zu bestaunen, als die Bauherren das dunkle Mittelalter mit lichtdurchfluteten, in die Höhe strebenden Bauwerken hinter sich lassen wollten.

Doch die Idylle ist derzeit getrübt: Der Landkreis Rottal-Inn führte mehrere Tage lang die deutsche Corona-Inzidenz-Liste an. Die Sieben-Tage-Inzidenz beträgt aktuell satte 1267,7 je 100 000 Einwohner. Auch wenn man am Montag vom Landkreis Sächsische Schweiz überholt wurde, steigen die Zahlen weiter stark an. Jeder zehnte Bewohner hat sich schon mal mit dem Virus infiziert, im Landkreis Plön in Schleswig-Holstein ist es nicht mal jeder Fünfzigste.

Am Wochenende wandte sich Landrat Michael Fahmüller mit einem emotionalen Statement an die Öffentlichkeit: »Ich habe eine solche Situation noch nie erlebt«, erklärte der CSU-Politiker mit Blick auf die Lage in den Krankenhäusern. Man könne die Pandemie nicht »wegleugnen oder vor ihr kapitulieren. Wir müssen da jetzt gemeinsam durch, koste es, was es wolle«. Und er appelliert an seine Leute: »Falls Sie noch nicht geimpft sind, gehen Sie noch einmal in sich. Bitte fallen Sie vor allem nicht auf die Falschmeldungen und Lügen bezüglich der Pandemie und der Impfung herein, die verantwortungslose Agitatoren täglich im Internet verbreiten.« Fahmüller bittet zudem den Ministerpräsidenten Markus Söder eindringlich, den Katastrophenfall landesweit auszurufen.

Warum es ausgerechnet diesen dünn besiedelten Landkreis, dessen größte Stadt Eggenfelden gerade einmal 13 800 Seelen zählt, derart hart trifft, kann sich dort niemand erklären. In letzter Zeit gab es keines der berüchtigten Superspreading-Events. Auch Epidemiologen zucken die Schultern, wenn man sie nach solchen »Ausreißern« fragt. In einem kleinen Landkreis würden schon kleinere Infektionszahlen die Inzidenz in gewaltige Höhen treiben. Ein statistischer Zufall also?

Nicht ganz, denn die Entwicklung in Rottal-Inn gibt den bundesdeutschen Trend wieder. In der Liste der höchsten Inzidenzen liegen nur ländlich geprägte Landkreise in Bayern, Sachsen und Thüringen in den Top Ten. Während das Robert-Koch-Institut in der dritten Welle die Corona-Hotspots in den ärmeren Großstadtvierteln wähnte, wo die Leute dicht an dicht leben, sieht es zumindest aktuell ganz anders aus.

Ähnlich schon zu Beginn der Pandemie: Das Ifo-Institut kam in einer frühen Untersuchung zu dem Ergebnis, dass »die erste Welle im Frühjahr 2020 überraschenderweise eher den ländlichen Raum in Deutschland getroffen hat«. Die Experten führten dies auf singuläre, lokale Ausbrüche zurück – nach Starkbierfesten in Bayern oder Karnevalsveranstaltungen in Nordrhein-Westfalen.

Richtig erforscht wurden die Ursachen bisher aber nicht, was auch an der miserablen Datenlage in der Bundesrepublik liegen dürfte. Daher gibt es eher Plausibilitätsannahmen: Der Virologe Christian Drosten verwies vor längerer Zeit auf die »soziale Geselligkeit« und das »rege Vereinsleben« auf dem Land. »Der gute gesellschaftliche Zusammenhalt bietet dem Virus leider aber auch Gelegenheit, zwischen den Generationen übertragen zu werden.« Und so erreicht Corona eben auch die vulnerablen Gruppen.

Epidemiologen vermuten darüber hinaus, dass ein besonders trügerisches Sicherheitsgefühl in den entspannten Sommermonaten für Ausbreitung gerade auf dem Land sorgte. Das Gefühl, fernab des Gedränges in den Städten zu leben, könnte hier zu besonders großem Leichtsinn im Alltag geführt haben.

Ein weiterer Grund, der ebenfalls mit geringerem Risikobewusstsein zusammenhängen dürfte, ist indes belegbar: die niedrige Impfquote. Im Landkreis Rottal-Inn etwa liegt sie bei 53 Prozent, bundesweit bei rund 67 Prozent. Daher findet das Virus leichter die ganz Ungeschützten für seine Ausbreitung. Inzwischen wollen sich wieder mehr Bürger impfen lassen, doch das Impfzentrum in Eggenfelden hat nur noch zwei Tage die Woche geöffnet. Wartezeit auf einen Termin: drei Wochen. Die Kapazitäten sollen nun wieder erweitert werden, was aber dauert.

Für Ursachenforschung ist in Rottal-Inn derzeit natürlich keine Zeit. Hier wäre man schon froh, wenn man die Kontaktpersonen Infizierter warnen könnte, ein wesentlicher Baustein bei der Pandemiebekämpfung. Doch davon ist man bei der derart hohen Inzidenz weit entfernt, wie es Landrat Fahmüller schildert: »Unsere Kontaktermittlung arbeitet täglich bis spät in die Nacht hinein, um wenigstens Betroffene sowie Kontaktpersonen in den vulnerablen Gruppen etc. zu erreichen – doch selbst das ist im Moment nur noch bedingt leistbar.«

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