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Triage wie seit 1945 nicht mehr

Der Chef der Kassenärztlichen Vereinigung Berlin fordert einen umgehenden Lockdown für Ungeimpfte

  • Mischa Pfisterer
  • Lesedauer: 7 Min.

Im Sommer gab es bereits eindringliche Warnungen, dass wir mit Blick auf die Infektionszahlen im Herbst große Probleme bekommen. Was ist da schiefgelaufen?

Schiefgelaufen ist die Erkenntnis, dass, wenn wir immer noch 13 Millionen ungeimpfte Erwachsene haben, man sich da etwas vormacht. Es wurden immer wieder die Erfolgszahlen herausgeholt, wie toll das doch alles läuft. Und man hat dann aber schlicht und ergreifend übersehen, dass wir mit einer Durchimpfungsquote, die so bei 68, 69 Prozent liegt, einfach keine Veränderung der Situation erreichen.

Zur Person

Burkhard Ruppert ist seit Januar 2021 Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Berlin. Der 1960 geborene Facharzt für Kinderheilkunde und Jugendmedizin ist seit 2006 Mitglied in der Ethikkommission des Landes Berlin beim Landesamt für Gesundheit und Soziales.

Die KV Berlin vertritt über 9000 ambulant tätige Ärzt*innen und Psychotherapeut*innen, die sich um die Gesundheit von drei Millionen gesetzlich Krankenversicherten in der Hauptstadt kümmern. Mischa Pfisterer sprach für »nd« mit dem KV-Chef über die aktuelle Corona-Situation.

Wir stehen jetzt mit leeren Händen da?

Das einzige, was wir damit erreicht haben, ist, dass wir trotz hoher Neuinfektionszahlen eine relativ geringe Hospitalisierungsquote haben. Wenn wir diese Inzidenzzahlen im letzten Jahr gehabt hätten, ohne Impfung, dann hätten wir jetzt schon eine völlige Überlastung der Kliniken. Aber wir haben weiterhin steigende Infektionszahlen, was an 13 Millionen Erwachsenen liegt, die nicht geimpft sind. Und wir hätten all diese Probleme nicht, das kann ich ihnen sagen, wenn wir das im Auge gehabt hätten, wenn das vor allem auch die Politik im Auge gehabt hätte, sich um diese Personengruppe zu kümmern.

Es wurde auf das Prinzip Hoffnung gesetzt.

Ja, man hatte nicht den Mut zu sagen: Wenn wir das nicht erreichen mit der höheren Impfquote, dann werden wir an eine verpflichtende Impfung herangehen müssen, und das wird ja auch jetzt allenthalben überall gefordert. Die KV Berlin fordert darüber hinaus noch einen Lockdown für Ungeimpfte und eine Kostenbeteiligung für Ungeimpfte, sofern sie erkranken und aufgrund einer Corona-Infektion in eine Klinik eingeliefert beziehungsweise auf einer Intensivstation behandelt werden müssen. Damit wollen wir der Bevölkerung klarmachen, dass jetzt Schluss ist mit lustig. Es ist vorbei! Die Zeit der Appelle ist zu Ende.

Warum?

Wir müssen jetzt reagieren, weil wir sonst in zwei, drei Wochen das ernten, was wir jetzt säen. Bei den hohen Infektionszahlen werden uns die Intensivabteilungen um die Ohren fliegen. Wir werden in eine Triage-Situation kommen, wie wir sie noch nie in Deutschland erlebt haben nach dem Zweiten Weltkrieg. Und wenn wir das verhindern wollen, müssen wir jetzt - jetzt! - das Ruder herumreißen. Wenn es nicht schon zu spät ist.

Und das Impfen allein wird bei der akuten Situation nicht helfen, die Infektionszahlen abzubremsen?

Genau. Das heißt, die Akutmaßnahme ist der Lockdown für die Ungeimpften. Und zwar ein ernsthafter Lockdown. Mit allen Konsequenzen für diese Gruppe. Ungeimpfte hatten lange genug Zeit, sich das zu überlegen. Und der sogenannte Freedom Day, der ja von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung mal propagiert wurde, der hing immer damit zusammen.

Der dann aber auch gehörig missverstanden wurde?

Es wurde immer gesagt: Lassen sich viele Menschen impfen, können wir lockern. Und deswegen würde ich auch sehr stark dafür plädieren, das Leben derer, die dreimal geimpft sind, in Ruhe zu lassen. Wenn diese Menschen dann noch eine FFP2-Maske tragen, dann passiert da so gut wie nichts mehr.

Wenden sich die Angesprochenen bei solchen Forderungen nicht noch mehr ab?

Das fällt uns auch nicht leicht, das darf ich ihnen sagen. Das ist keine Sache, die wir so leicht dahinsagen. Kein Mensch macht so was gerne, wirklich nicht. Verstehen sie, wir haben so lange jetzt zugeguckt, wir haben so lange appelliert, immer wieder appelliert, selbst der Bundespräsident sagt, er versteht nicht mehr, was man noch tun muss, um die zu überzeugen. Ich glaube, es gibt einfach eine hinreichend große Gruppe von Menschen, die müssen vielleicht wirklich mal so etwas wie eine Triage erleben, vielleicht am eigenen Leib. Ich wünsche das niemandem. Aber vielleicht werden dann doch die einen oder anderen wach. Und damit das möglichst nicht passiert, stellen wir jetzt diese unangenehmen Forderungen auf, auch wenn wir dafür eine Menge Schelte einstecken müssen.

Verlässt man sich zu sehr auf das deutsche Gesundheitssystem?

Das ist der Grund übrigens, warum in Portugal die Sache läuft. Dort wissen die Leute, dass ihr Gesundheitssystem das in keinem Fall auffangen wird, wenn sie sich nicht schützen. Hier in Deutschland denkt man: Na, was soll passieren, kriege ich halt Sauerstoff!

Leider ist es ja bei vielen mit ein bisschen Sauerstoff nicht getan.

Wir werden an den Punkt kommen, an dem man überlegen muss, gebe ich das letzte Bett jetzt dem 75-Jährigen, der dreimal oder zweimal geimpft wurde und trotzdem noch mal erkrankt ist. Oder gebe ich es dem 25-Jährigen, der sich um nichts gekümmert hat. Das ist kein Generationskonflikt, das ist ein Konflikt zwischen Geimpften und Ungeimpften, zwischen Solidargemeinschaft und nicht solidarisch sich Verhaltenden. Ich möchte eigentlich gar nicht, dass wir uns solche Fragen stellen müssen. Aber solche Fragen werden mittlerweile diskutiert. Der Ethikrat, die Kliniken, alle machen sich jetzt Gedanken über die Frage, wie wir triagieren müssen.

Was wäre die Alternative? Keine Gedanken machen?

Nein, aber es ist doch schlimm genug, oder? Es ist doch furchtbar, dass wir überhaupt in so eine Situation gekommen sind. Sie hatten mich gefragt: Wie konnte das denn sein? Meine Antwort war, weil wir es zugelassen haben, dass 13 Millionen den Kopf einziehen und hoffen, dass sie damit durchkommen. Hoffen, dass sie trittbrettfahrermäßig die Sache überstehen. Nur das funktioniert so nicht - 13 Millionen sind zu viele. Und wir müssen - Minimum - 85, 90 Prozent impfen. Wir bräuchten die Kinder zum Beispiel gar nicht zu impfen, wenn wir alle Erwachsenen impfen würden. Die Kinder erkranken ja nicht wirklich - jedenfalls im Großen und Ganzen nicht schwer. Und sie sind auch nicht der Treiber dieser Pandemie.

Aber auch nicht unbeteiligt, wenn man sich die Inzidenzen an den Berliner Schulen so anschaut.

Kinder wurden meistens von Erwachsenen angesteckt, nicht umgekehrt, und sie gehören zu den hauptsächlich leidtragenden Gruppen. Wir verwehren ihnen den Kindergarten, wir verwehren ihnen die Schule, wir verwehren ihnen soziale Kontakte, Freunde zu treffen. Alte Menschen sperren wir weg in die Pflegeheime, Angehörige können sie nicht mehr besuchen. Die Schäden, die wir damit setzen und gesetzt haben, sind immens und sie sind überhaupt noch nicht absehbar.

Warum diskutieren wir die Impfpflicht als Zwang? Es wird ja so ein Bild aufgebaut, dass Menschen auf der Straße von anderen mit Spritzen gejagt werden.

Das macht natürlich kein Mensch. Impfpflicht heißt nicht Impfzwang. Da wird keiner geknebelt und gefesselt und dann geimpft, sondern es kann bedeuten, dass Ungeimpfte mit Sanktionen belegt werden. Ich weiß nicht, was der Gesetzgeber sich da einfallen lässt. Das ist auch gar nicht meine Aufgabe, mir das auszudenken. Aber es muss schon klar sein, dass die Situation ernst ist. Und wenn einer das partout nicht will, dass er dann mit den Konsequenzen leben muss. Das kann bedeuten, dass er, um sich und andere zu schützen, in den Lockdown gehen muss, oder er lässt sich impfen. So viel Solidarität können wir doch von Ungeimpften erwarten, wenn diese sagen: Okay, ich will mich nicht impfen lassen, ich habe da einfach große Sorge und Angst. Dann wäre unsere Antwort: Bleibe bitte zu Hause und sorge dafür, dass du mit deinem Verhalten andere nicht gefährdest.

Wie? Und das war es dann?

Wir dürfen auf keinen Fall nachlassen, uns um diese Menschen zu kümmern. Das sehe ich durchaus so. Jetzt einfach darwinistisch zu sagen, wer es jetzt noch nicht kapiert hat, fällt hinten runter - das würde ich nicht unterstützen. Aber es muss allen klar sein, wie ernst die Lage ist. Und es muss klar sein, dass wir jetzt als Gesellschaft zusammenstehen müssen. Es gibt wenige Momente im Leben, wo ich so pathetisch werde und so etwas sage. Aber wir müssen uns jetzt solidarisch verhalten. Und solidarisch heißt entweder, ich lasse mich impfen oder ich gehe in den Lockdown und gefährde niemanden.

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