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Was die Welt zusammenhält

Kann man Globalgeschichte denken - zudem mit Hegels philosophischer Dialektik? Moritz Rudolph wagt mit »Der Weltgeist als Lachs« einen beachtlichen Versuch

  • Haziran Zeller
  • Lesedauer: 5 Min.

Es gibt ein Lied von Thees Uhlmann, in dem Lachse besungen werden, die zum Laichen und Sterben den Fluss hinaufschwimmen. In diesem Sinnbild berühren sich Leben und Tod, Anfang und Ende, und wohl aus diesem Grund hat der in Leipzig lebende politische Theoretiker Moritz Rudolph das Motiv der in den Ursprung heimkehrenden Fische im Titel seines viel beachteten Buches aufgegriffen, denn nicht weniger als die Rückkehr der Geschichte zu ihrem Nullpunkt wird in »Der Weltgeist als Lachs« verhandelt. Und das - höchst ungewöhnlich - in Form der geschichtsphilosophischen Spekulation. Die Philosophie wagt sich hier in Sphären, in denen sie sich heute mit den Etiketten nachmetaphysisch und analytisch üblicherweise für unzuständig erklärt.

Die Renaissance kannte den transformierenden Rückgriff auf totgesagte Ideen, und etwas ähnliches unternimmt der 1989 in Gotha geborene Rudolph in seinem Essayband, der im Geist der unzeitgemäßen Dialektik von derselben eine Konsequenz einfordert, die sie bei Hegel nicht besaß. Es sei schließlich alles andere als plausibel, dass die Philosophie des großen Idealisten allerorten die Kreisform verwende, dann aber bei einer wirklich runden Sache, nämlich dem Globus und seiner Historie, plötzlich die lineare Metapher der Sonnenbahn benutze und die Weltgeschichte als einen Tag begreife: im chinesischen Osten geht die Sonne auf, aber im preußischen Westen geht sie unter. Das sind die 24 Stunden der Weltgeschichte, in deren Dämmerung »die Eule« Hegel seine Philosophie verfasst haben will und ein Fehler, der so offensichtlich ist, das ihn vor Rudolph niemand bemerkte: Auch der Kreis der Geschichte muss sich schließen!

Weltmacht auf dem Rückzug

Falls das aber so ist, müsste der Weltgeist noch ein letztes Mal sein Zentrum verlagern, und wie um die prophetische Kraft der Philosophie zu beweisen, macht es tatsächlich gerade allen Anschein, als würde China die globale Vorreiterrolle übernehmen. Die immanente Kritik der Dialektik führt also zur Gegenwart, in der ein universaler Westen an seinem hausgemachten Relativismus so zugrunde geht, dass er auch im Außen jeden Deutungs- oder gar Führungsanspruch aufgibt, wie sich zuletzt in der demütigenden Flucht der einstigen Weltmacht USA aus Afghanistan manifestierte. Man übertreibt nicht mit der Behauptung, Rudolph habe dieses Epochenereignis vorweggenommen. Und zwar als er schon im Voraus feststellte, das globalisierungsmüde Amerika habe den »Staffelstab des Weltgeistes« bereits abgegeben und es werde China leichtfallen, »in die verwaisten Räume vorzustoßen und sich als Ordnungsalternative anzubieten«. Denn nichts anderes ist in Kabul passiert.

Nur wäre Rudolph kein Materialist, beließe er es allein bei einer geopolitischen Analyse. Stattdessen bemüht er sich um eine ökonomische Erklärung der amerikanischen Selbstaufgabe und findet sie in einem bereits abzusehenden chinesischen Technologievorsprung: »Schon jetzt meldet China jährlich zwei- bis dreimal so viele KI-Patente an wie die Vereinigten Staaten«. Dieser Abstand werde sich zudem immer weiter vergrößern, da Personendaten für die weitere Verbesserung der Künstlichen Intelligenz eine entscheidende Voraussetzung sind, und damit ist die Richtung angezeigt, in die es Rudolphs Spekulation drängt: Die datenungeschützte Milliardenbevölkerung Chinas könnte aus sich selbst heraus die digitale Singularität eines nie dagewesenen Supercomputers gebären, in dessen Herrschaft die Geschichte tatsächlich zu ihrem Ende fände - eine Mischung aus Science-Fiction und Geschichtsphilosophie, die jeden Denkenden begeistern muss.

Die Zukunft liegt in China

Rudolph schaut nach Shenzhen, ins chinesische Silicon Valley, und schickt uns ein Bild aus der Zukunft wie seinerzeit Karl Marx, der den Deutschen aus Manchester schrieb, hier sei der kommende Tag der Weltgeschichte bereits angebrochen. Womit die Analogie aber erschöpft und man beim Problem ist. Denn anders als Marx in England macht Rudolph in China kein anderes Vergesellschaftungsprinzip aus. Stattdessen greift er auf das etablierte Konzept der verwalteten Welt zurück, also auf ein Modell, mit dem die Kritische Theorie unsere Vergangenheit beschrieben hat, und das bringt die Konstruktion ein wenig zum Klappern.

Denn einerseits ist es natürlich verführerisch, die etwaige »KI-Herrschaft« für die Vollendung des kulturindustriellen Verblendungszusammenhangs zu halten, nur bestand dessen Spezifität eben auch in der Freiwilligkeit der Selbstkontrolle, die im computergestützten Autoritarismus etwas verloren geht. Bei bösem Verdacht könnte man deshalb in Rudolphs Technikbegriff eine Ontologisierung der Gewalt am Werk sehen wie bei Martin Heidegger. Man könnte es auch so formulieren, dass »The Matrix«-artige Szenarien besser nicht als Zukunftsprognose verstanden werden sollten, sondern als Parabeln für die Gegenwart.

Nur ist es für die angedeutete Kritik viel zu früh, da »Der Weltgeist als Lachs« nur die Prolegomena zu einer künftigen Geschichtsphilosophie bilden kann. Ihre Präzision wird vergleichbare Marginalien in die Schranken weisen. Jetzt bereits ragt das Buch aus dem Meer oder eher dem Sumpf solcher Publikationen weit heraus, da es die Philosophie nicht als Gegenstand oder Thema behandelt, sondern anwendet und somit den Leser zum Denken fordert, statt über das letztere nur zu berichten. Rudolphs Aufsatz ist darum so beachtlich, weil darin etwas probiert wird. »Ungedeckter Gedanke« nannte Theodor W. Adorno das: Man nimmt einmal etwas an und guckt, wohin es führt. Hier hat sich einer Gedanken gemacht, darum können andere an ihn anschließen. Und das ist wohl die implizite Hoffnung des Bandes: der dialektische Laich möge kein Leichnam sein. Solange er selbst sein eigenes Ende denken kann, ist der Weltgeist nicht verschwunden.

Moritz Rudolph: Der Weltgeist als Lachs. Matthes & Seitz Berlin, 127 S., br., 12 €.

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