Der Stachel muss zu spüren sein

Kritische Theorie und trotzdem ein Bestseller: Vor 70 Jahren sind Theodor W. Adornos »Minima Moralia« erschienen

  • Jakob Hayner
  • Lesedauer: 7 Min.

Als 1951 die »Minima Moralia« von Theodor W. Adorno erscheinen, finden sie in kürzester Zeit Zehntausende von Lesern. Eine Sammlung von philosophischen Aphorismen spricht ein Massenpublikum an, verfasst von einem aus dem kalifornischen Exil zurückgekehrten jüdisch-marxistischen Intellektuellen mit musikalischen und philosophischen Neigungen, geflüchtet vor den Nazis und nun in der akademischen Soziologie in Frankfurt am Main untergekommen.

Zwischen beredtem Schweigen, Heimatfilm und Landser-Heften teilte der nach eigener Aussage selbst nicht ohne Schaden Zurückgekehrte seine »Reflexionen aus dem beschädigten Leben« mit, so der Untertitel - und traf einen Nerv. Der Soziologe Heinz Bude zeigt in seinem Buch »Adorno für Ruinenkinder«, dass die junge Generation in Deutschland die Kulissenhaftigkeit der wiederaufgebauten Kultur und die dahinter verborgene Gewalt ahnte. »BRD Noir« nannten Philipp Felsch und Frank Witzel die unheimliche Nachkriegsatmosphäre, in der sich die Nazi-Verbrechen in unscheinbaren Phänomenen ausdrückten. Neurotische Reinlichkeit, hygienisch geflieste Bäder und Unmengen von Parfüm, übertünchte die Schuld. Die »Minima Moralia« waren ein Schlüssel zum Verständnis dieser Gesellschaft. Als Taschenbuch, es war die Zeit der Paperback-Revolution, trug man es mit sich herum, las von vorne nach hinten und umgekehrt. »Der lange Sommer der Theorie« der westdeutschen Linken, so Felsch in seinem gleichnamigen Buch, hatte hier einen Ausgangspunkt.

Gewidmet hat Adorno sein Buch dem vertrauten Freund Max Horkheimer, der selbst Anfang der 30er Jahre mit »Dämmerung« einen Ausflug ins Aphoristische unternahm. Auf die Widmung folgt die Zueignung. In der spricht Adorno von der »traurigen Wissenschaft«, ein Verweis auf Friedrich Nietzsches Aphorismensammlung »Die fröhliche Wissenschaft«. Von einem der bloßen Lebenssteigerung verpflichteten amoralischen Vitalismus ist Adorno jedoch weit entfernt. Das Leben überhaupt sei vom Privaten in die Sphäre des Konsums geraten, werde ohne Autonomie und Substanz mitgeschleift. »Wer die Wahrheit übers unmittelbare Leben erfahren will, muss dessen entfremdeter Gestalt nachforschen, den objektiven Mächten, die die individuelle Existenz bis ins Verborgene bestimmen«, schreibt Adorno.

Ob Drehtüren, maschinell verfasste Briefe ohne Anrede, Abgründe der Ehe oder der Fetisch der Authentizität, wie ein Detektiv durchstreift Adorno die Überreste der bürgerlichen Welt, die im Kapitalismus der Trusts und Monopole selbst zum ornamentalen Dekor geworden ist. Seine Methode sei an Hegel geschult, schreibt Adorno, dem Philosophen der Totalität. Der habe das Individuum als Reflexionsform der Gesellschaft erkannt, unterschlagen habe er, wie unbarmherzig diese über es herrsche. Nicht genannt werden die beiden Denker, denen Adornos Methode nicht weniger verdankt: Marx und Freud. Von Marx nimmt er die Bestimmung der Totalität als kapitalistisch und krisenhaft, von Freud die des Individuums. Konkurrenz, Überflüssigkeit, Gewalt einerseits, Verdrängung, Verleugnung, Spaltung andererseits.

Nicht nur die kritische Geistestradition Europas floss in die »Minima Moralia« ein, Adorno schöpfte zudem aus seiner »amerikanischen Erfahrung«. Formulierungen wie »das escape ist voller message« oder »Ermahnung zur happiness« zeigen das sprachlich an - und würden heute die im Namen ihres Schutzes auftretenden Sprachverächter wohl zur Weißglut treiben. Damals trafen sie auf ein Publikum, das an der englischsprachigen Popmusik Gefallen fand. Adorno wäre freilich »rebel with a cause« statt »without«, doch ohne diesen vortheoretischen Impuls wäre noch die kritischste Theorie ohne Leben. Die kleine Form der Aphorismen ist für Adorno keine Verlegenheitslösung, im Gegenteil. Er will die Fassade der verdinglichten Kommunikation durchschlagen, das Subjekt in seiner Verhärtung gegen Erfahrung und Reflexion doch noch berühren. »So ist es« scheint jeder Satz zu sagen, wie es der Philosoph Alexander García Düttmann in seinem gleichnamigen Essay formulierte - und provoziert so ein Urteil des Lesers.

Geschult an dem von ihm bewunderten Karl Kraus bedient sich Adorno auch beißenden Spotts und scharfer Sarkasmen. Der Stachel der Kritik muss zu spüren sein. Es »marschieren die Verarmten im Geiste begeistert in die Hölle, die ihr Himmelreich ist«, geführt von der »Stimme des Herzens«, die sich als »Werkzeug der Gesellschaft« erweist, ins »Gehege der Humanität« - um ein paar Beispiele zu geben. An der Psychoanalyse sei nichts wahr als ihre Übertreibungen, konstatiert er und nimmt es beim Wort. Das Wohnen der neuen Sachlichkeit führe zum Konzentrationslager, und die Orientierungslosigkeit der großen Warenhäuser lasse nach dem Führer rufen. Solch rhetorischer Überschuss mündet in gesellschaftskritische Einsicht, gerichtet gegen die aufgeblasenen Blitzgescheiten, die immer nur auf das bloße Sein pochen, über dessen Bedeutung aber schweigen und entsprechend zu keiner Deutung kommen - außer jener, die sie von den Herrschenden übernehmen. Jeder Aphorismus steht gleich nah zum Mittelpunkt, der Kritik einer nach Adorno im wörtlichen Sinn kranken Gesellschaft, die wiederum jene als »krank« etikettiert, die sich auflehnen.

»Es gibt kein richtiges Leben im falschen«, »Das Ganze ist das Unwahre« oder »Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen«. Diese berühmten Zitate aus den »Minima Moralia« sind inzwischen eben jenem Schicksal erlegen, das dem Gestus der Texte widerstrebt; eingemeindet ins bescheidwisserische Feuilletongeschwätz. Gegen den intellektuellen Defätismus, den das heute kaschieren hilft, hat Michael Hirsch vor zwei Jahren mit »Richtig falsch« eine eigene Sammlung von Aphorismen veröffentlicht, die das Augenmerk auf den Gebrauch der Theorie legt. Will man mit Adorno das Wagnis des Denkens auf sich nehmen oder sich für den Verzicht darauf selbst entschulden?

Die Formulierung »den besseren Zustand denken als den, in dem man ohne Angst verschieden sein kann« ist so zum Kalenderspruch der linksliberalen Bemühungen um ein netteres innerkapitalistisches Betriebsklima verkommen. Doch fordert der vorausgehende Halbsatz, man solle »auf die schlechte Gleichheit heute, die Identität der Film- mit den Waffeninteressenten deuten«. Unzeitgemäß? Dieser Tage rühmt sich Amazon der Initiative für Diversität und Inklusion und macht Geschäfte mit dem US-Militär.

Es mag auch an den heutigen Lesern liegen, dass man den orthodoxen Marxismus der »Minima Moralia« kaum noch zur Kenntnis nimmt. Bei einer akademischen Tagung Mitte November im Centre Marc Bloch in Berlin widmeten sich zahlreiche Beiträge vor allem Fragen der Form. »›Wer sagt, er sei glücklich, lügt‹. Kritische Theorie in Bruchstücken« lautete der Titel der Veranstaltung. Wäre Adorno heute bei Twitter, wurde dort beispielsweise gefragt. Was sich mit Adorno darüber sagen ließe, blieb außen vor. Hat man mit den »Minima Moralia« nichts zu lachen oder doch etwas zum Schmunzeln? Nicht, dass diese Fragen uninteressant wären, doch blieben sie eigentümlich unverbunden zur zentralen gesellschaftskritischen Einsicht Adornos, dass die Gesellschaft selbst mit ihrer Herrschaft über das Individuum dieses abschafft. »Selbsterhaltung verliert ihr Selbst«, heißt es bei ihm. Im Monopolkapitalismus werden die Einzelnen unmittelbar in Regie genommen, die auf Signale zu reagieren haben. Sie regredieren auf angstgetriebene Reflexbündel, als welche sie die Herrschenden haben wollen. Das ist die »neue Anthropologie« des kapitalistischen Menschen. Selbst die libidinösen Regungen im Intimen oder die Neigungen in der Konsumsphäre führt Adorno beharrlich auf den Zwang der kapitalistischen Produktion zurück, die gnädig gewährte Freizeitfreiheit korrespondiert mit der unveränderten Starre der Klassengesellschaft.

An dem beschädigten Leben habe sich so viel nicht geändert, sagte auf der Tagung der Soziologe Stefan Müller-Doohm, der noch bei Adorno und Horkheimer in Frankfurt am Main studierte. Die formierte Gesellschaft bringt ein entsprechendes Denken hervor, Adorno und Horkheimer nennen das eine »Ticket-Mentalität«. Egal, auf welchem man reist, die »ausschließenden Tickets« führen in den Faschismus, zu dem der Monopolkapitalismus in der Krise von selbst tendiert. Solange der Sozialismus ausbleibt, können die Aporien des falschen Lebens nicht subjektiv gelöst werden. 70 Jahre nach Erscheinen der »Minima Moralia« ist die Aufgabe weiter ungelöst: »keine Emanzipation ohne die der Gesellschaft«.

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