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Nichts geht zu weit

Wohin führt der digitalisierte Kapitalismus? In »Every« von Dave Eggers möchten die Menschen Maschinen werden

  • Werner Jung
  • Lesedauer: 4 Min.

Am Anfang der Lektüre stand durchaus Skepsis. Ob es wohl gelingen mag, eine Fortsetzung seines Bestsellers »Circle« von 2013 zu schreiben, der in der dystopischen Tradition von Orwells »1984« steht und anhand eines Internetkonzerns die Möglichkeiten ubiquitärer Überwachungsstrategien durchspielt? Ob es Dave Eggers wirklich schafft, die Schraube noch weiterzudrehen? Oder ob dabei bloß ein schaler zweiter Aufguss herauskommt?

Berechtigte Zweifel. Und doch hat der hellsichtige Zeitdiagnostiker Dave Eggers, mit »Every« wieder einen Roman verfasst, der zu heftigen und hoffentlich nachhaltigen Diskussionen anregen könnte.

Aus dem »Circle«-Unternehmen ist inzwischen unter dem Namen »Every« ein noch gigantischerer Konzern geworden, der auf Treasure Island in der Bucht von San Francisco residiert. Geführt nun seit geraumer Zeit schon - und die Zeit der Handlung spielt in ungefährer, wenn auch nicht unbedingt entfernter Zukunft - von Mae Holland, der Protagonistin aus dem »Circle«-Roman, die von einer ehemals unbedarft-naiven Anfängerin inzwischen zur zentralen Figur des Unternehmens aufgestiegen ist.

Unermüdlich arbeiten in verschiedensten Gruppen und Abteilungen Programmierer und andere Nerds an der Verbesserung der Menschheit, werden Apps und Tools entwickelt, die längst das smarte Wohnen in den Hintergrund gerückt haben - zugunsten eines umfassenden smarten Denk- und Lebensstils. Als da sind: Wohnungen und Häuser, deren Geräteapparat rigider digitaler Kontrolle unterliegt; analoge Überwachung findet noch an entlegensten Stränden statt. Es gilt: Kommunikationsmittel und -wege müssen allen zugänglich sein. Das heißt aber: Noch das simpelste Ansinnen auf Privatsphäre wird ausgeschaltet. Das Ideal der vollständigen Transparenz - oder wie es Mae Holland ausdrückt: Es geht darum, »dass alle Videos, alle Fotos, alle Dokumente, sobald sie einmal in der Welt waren, der Welt gehörten«.

Zu den neuen Errungenschaften zählt zum Beispiel eine Literatur-App, die dafür sorgt, dass Texte den Lesern auch tatsächlich gefallen, nämlich dadurch, dass sie schlicht nicht zu lang geraten und auch keine unbequemen, eventuell unsympathischen Charaktere enthalten. Eine weitere App beschäftigt sich mit den vorliegenden klassischen Texten: Sie werden »so verbessert, dass sie heutigen Standards und Lesevorlieben entsprechen«. Das meint wohl Optimierung. Und es wird weiter gedreht und geschraubt.

Das Gefühl, das einst Günther Anders in seiner »Antiquiertheit des Menschen« als »prometheische Scham« bezeichnet hat, dass wir Menschen uns vor der unbändigen Macht der selbst geschaffenen Apparaturen bis hin zur Drohung mit der Atombombe derart beeindruckt zeigen, dass wir uns schämen, keine Maschinen zu sein, das übersteigert Eggers ins Unermessliche. Denn was einmal in die Welt gebracht worden ist, wird auch gemacht, wobei die antiquierte Scham der puren Schamlosigkeit gewichen ist. So wird unter anderem ein Pogramm namens »Tav« (Takes a Village) entwickelt, »das es dem User ermöglichte, Kinder bei ihren Missetaten und Fehltritten zu filmen und zu taggen und diesen Beweis dann mit dem Trackingchip zu verbinden, die die meisten Kinder am Fußknöchel trugen«.

Die Gegenspielerin von Mae Holland ist die junge Delaney, die - eigentlich ein Parallelentwurf von Eggers zur frühen Mae - von der Überzeugung geleitet ist, als Mitarbeiterin sozusagen von innen gegen die finsteren Pläne des Konzerns zu arbeiten. Sie wird zunächst von ihrem Freund und von ihrer früheren Professorin unterstützt. Doch im Verlauf der Geschichte zeigt sich mehr und mehr, dass Opposition nicht mehr möglich ist, ja, dass diese korrumpiert und schlicht integriert wurde. No way out. Es gibt eben kein Außen zur Welt des »Überwachungskapitalismus« (Shoshana Zuboff).

Am Ende steht Delaney mutterseelenallein da. Einmal dämmert es ihr ganz kurz, dass vielleicht nur ein Monopol noch die Welt retten könnte - ein Zukunftsszenario, das Mae Holland dann unter gewaltigem Applaus ihrer Mitarbeiter*innen tatsächlich entwirft. Denn dann würden »das letzte bisschen Chaos, die letzten Ungewissheiten der Welt verdampfen wie Tau im Sonnenlicht. Wo es Lärm und Unordnung gegeben hatte, würde das leise Summen einer Maschine zu hören sein, die alles sah, alles wusste und am besten wusste - eine Maschine, die an der Vervollkommnung des Menschen und der Rettung des Planeten arbeitete.«

Dave Eggers: Every. A. d. Engl. v. Klaus Timmermann/Ulrike Wasel. Kiepenheuer & Witsch, 592 S., geb., 25 €.

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