Rassismus als Tatmotiv ignoriert

31 Jahre nach einem Anschlag auf Migranten im bayerischen Kempten wird der Fall wieder aufgerollt

  • Peter Nowak
  • Lesedauer: 3 Min.

Am 17. November 1990 betraten bis heute unbekannte Täter*innen ein von einer türkischen Familie bewohntes Gebäude am Rande der Kemptener Innenstadt in Bayern und schütteten brennbare Flüssigkeit aus, die sie entzündeten. Während viele Bewohner*innen aus dem Fenster sprangen und sich so retten konnten, starb ein fünfjähriger Junge an einer Rauchvergiftung. Die Behörden ermittelten damals auch gegen Hausbewohner*innen und stellten die Ermittlungen 1992 ein. Jetzt wurden sie wieder aufgenommen, wie die Generalstaatsanwaltschaft München und die Polizeidirektion Schwabing Süd kürzlich in einer Pressemitteilung erklärten.

Die Polizei sucht Zeug*innen, die Beobachtungen im Zusammenhang mit dem Brand gemacht haben und bislang nicht von der Polizei kontaktiert wurden. »Wer kann Angaben zum Geschehen, dem Schreiben selbst, zur möglichen Gruppierung ›Anti-Kanaken-Front-Kempten‹ (gegebenenfalls auch ohne den Zusatz ›Kempten‹) oder etwaigen Mitgliedern der Gruppierung oder zum Verfasser des Schreibens machen?«, heißt es in dem Aufruf. Mit »Anti-Kanaken-Front-Kempten« war ein Text unterschrieben, der wenige Tage nach dem Brandanschlag verbreitet wurde. »Wir werden nicht ruhen, bis Kempten von allen undeutschen Kreaturen befreit ist«, drohten die Neonazis in dem mit Hakenkreuz und Runenschrift versehenen Schreiben. Dort hieß es, der »sehr erfolgreiche Anschlag« sei »erst der Anfang« gewesen.

Dass es zur Wiederaufnahme der Ermittlungen kommt, liegt an Artikeln zum 30. Jahrestag des unaufgeklärten Neonazianschlags, die auf der antifaschistischen Onlineplattform Allgäu-Rechtsaußen und dem Störungsmelder der »Zeit« im Internet veröffentlicht wurden. Daraufhin stufte die Generalstaatsanwaltschaft München den Tatvorwurf zum Mord hoch und leitete neue Ermittlungen ein.

Die Existenz des neonazistischen Bekennerschreibens ist den Hinterbliebenen des getöteten Jungen erst nach 30 Jahren bekannt geworden. Die Geschwister, die damals bei dem Anschlag schwer verletzt wurden, begrüßten die Wiederaufnahme der Ermittlungen. »Der Verlust unseres Bruders bekommt damit endlich die verdiente juristische Aufmerksamkeit als hinterhältiger Mord«, sagten Geschwister gegenüber »Zeit Online«. »Auch wenn die Chancen auf neue Erkenntnisse gering sind, hoffen wir dennoch darauf, dass neue Details zutage kommen - vielleicht auch zu ähnlich gelagerten Taten.«

Die Geschwister haben mit der Jenaer Rechtsanwältin Kristin Pietrzyk eine Juristin beauftragt, die seit Jahren Opfer rechter Gewalt vertritt. Durch die Recherchen wurde auch bekannt, dass die Ermittlungsbehörden schon 1990 die Urheber des Bekennerschreibens im Neonazi-Milieu vermuteten, was nach dessen Inhalt eigentlich selbstverständlich war. Durch Ermittlungen gegen eine Hausbewohnerin wurde aber der Eindruck erweckt, die Täter*innen seien unter den Opfern des Anschlags zu suchen. Daher gilt für viele noch immer der Neonazianschlag von Mölln 1992, bei dem drei türkische Frauen starben, als »erster rassistischer Anschlag im wiedervereinigten Deutschland«.

»Wenn es vergessen wird, kann es wieder passieren«. Zivilgesellschaftliche Initiativen beweisen seit 30 Jahren, dass Hoyerswerda aus dem dunklen Fleck seiner Geschichte gelernt hat

Auch andere Anschläge sind bis heute nicht aufgeklärt: Bei einem Anschlag auf ein von Migrant*innen bewohntes Haus in Lübeck im Jahre 1996 wurde der Verdacht auf den libanesischen Mitbewohner Safan Eid gelenkt, der jedoch freigesprochen wurde. Die jungen Neonazis, die in der Nähe des Tatorts mit Brandspuren von der Polizei kontrolliert wurden, standen bis heute nicht vor Gericht. Vielleicht dient das Beispiel Kempten als Vorbild für neue Ermittlungen.

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