Plötzlich schutzlos

Der Wegfall des Vorkaufsrechts bedroht auch Mieter, die sich sicher wähnten

  • Nicolas Šustr
  • Lesedauer: 4 Min.

»Wenn der Vorkaufsrechtsbescheid zurückgenommen wird, geht das Haus ohne Abwendungsvereinbarung an den Investor, und die WGs im Fabrikgebäude mit 80 Bewohner*innen müssen leider mit sehr baldigen Kündigungen rechnen« - diese »realistische Befürchtung« äußert Luce vom Hausprojekt H48 in der Neuköllner Hermannstraße. Denn noch juristisch streitbefangene Ausübungen von Vorkäufen sind nach einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig vom 9. November nach der bisherigen Praxis hinfällig.

Zwei Bewohnerinnen des Hauses Alte Schönhauser Straße 26 in Mitte fürchten um den Bestand der Abwendungsvereinbarung, die sie nach dem gescheiterten Vorkauf wenigstens für 20 Jahre vor Luxussanierungen und der Aufteilung des Hauses in Eigentumswohnungen schützen sollte.

Die Betroffenen schildern ihre Situation bei einer Online-Diskussion des Berliner Mietervereins und des Initiativenforums Stadtpolitik am Mittwochabend. »Vorkaufsrecht gerichtlich gekippt - und nun?«, so der Titel. Am selben Tag haben die Mietervereine der drei größten Städte der Republik - Berlin, Hamburg und München - auch einen offenen Brief an die neue Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD) geschickt. »Das Vorkaufsrecht muss sofort wieder rechtssicher gemacht werden. Viele Mieterinnen und Mieter, die darauf hoffen konnten, dass Kommunen ihre Häuser kaufen, bangen derzeit um ihr Zuhause«, heißt es darin.

Die Richter des Bundesverwaltungsgerichts haben sich am Wortlaut des Bundesbaugesetzes festgehalten, der nicht auf eine zukünftig den Zielen der sozialen Erhaltungssatzung widersprechende Nutzung abzielt, sondern auf die aktuelle Situation. Die Vermutung einer künftigen Verdrängung, zum Beispiel wegen sehr hoher Kaufpreise, mit der Kommunen deutschlandweit die Ausübung von Vorkaufsrechten begründeten, ist nach dem Urteil nicht mehr anwendbar. »Die Auslegung der Richter ist vertretbar, aber nicht zwingend«, sagt der Berliner Verwaltungsrichter Max Putzer, ein SPD-Mitglied. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber es anders haben wollte als bisher, seien jedoch nicht ersichtlich.

Rechtskräftig abgeschlossene Vorkaufsfälle betrifft das Urteil nicht. Wo es noch offene Widersprüche oder Klagen gibt, ist die Ausübung jedoch fast immer hinfällig geworden. Am Mittwochabend twitterten die Mieter der Pankower Florastraße 68 den Auszug aus einem Schreiben, in dem ihnen der Bezirk mitteilt, er habe den Vorkaufsrechtsbescheid »wegen fehlender Bestandskraft« zurückgenommen. Weitere solcher Schreiben dürften folgen. Auch das schon 2015 ausgeübte Vorkaufsrecht für drei Häuser in Tempelhof-Schöneberg, die die Bundesanstalt für Immobilienaufgaben damals zum Höchstpreis verkauft hatte, wird wohl darunterfallen, denn der Fall liegt noch vor dem Bundesgerichtshof. »Es ist davon auszugehen, dass dieses Verfahren auch verloren ist«, sagt Marius Schäfer, Experte für das Gebiet in der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung.

»Im Prinzip ist das Urteil doppelt schlimm, weil mir beide Möglichkeiten des Schutzes des Milieus wegfallen«, erläutert Schäfer. Er meint den Vorkauf und auch Abwendungsvereinbarungen, die Käufer mit den Bezirken schließen, um die Immobilien dennoch erwerben zu können. Für 384 Häuser in Berlin gebe es diese Verträge, dies betreffe deutlich über 9000 Wohnungen.

»Die Frage ist, ob die Feststellung des Bundesverwaltungsgerichts durchschlägt auf diese Vereinbarungen oder nicht«, sagt Rainer Tietzsch, Vorstandschef des Berliner Mietervereins und Anwalt. »Eine Sicherheit, sich künftig auf diese Vereinbarungen verlassen zu können, kann ich nicht geben«, so die wenig erbauliche Aussage. »Gewisse Eigentümerkanzleien« verträten die These, dass die Abwendungsvereinbarungen nichtig seien. Doch gebe es Urteile des Bundesverfassungsgerichts zu einzelnen Fällen, bei denen Verträge dennoch Bestand hatten. Eine zweite Möglichkeit wäre, dass die Vereinbarungen mit dem Makel behaftet sind, dass sie auf Basis einer »objektiv nicht gegebenen« Rechtslage geschlossen worden seien. »Dann sieht das Gesetz eine Abwägung vor, ob das Festhalten an dem Vertrag zumutbar ist«, so Tietzsch weiter. Eigentümer sollten sich aber nicht darauf verlassen, dass Gerichte die Vereinbarung für unzumutbar halten.

»Es gibt auch Argumentationsansätze, zu sagen: Die Verträge sind weiter wirksam und auch nicht kündbar«, sagt Marius Schäfer von der Senatsverwaltung. »Wir sollten diese Abwendungen nicht sofort verloren geben, sondern auch versuchen, zu kämpfen.« Im Moment stimme man sich mit den Bezirken ab, ob ein Musterprozess dazu geführt werden könne. »Das ist aber gerade im Fluss«, so Schäfer weiter.

Der Bundesgesetzgeber sei gefragt, das Gesetz zu ändern. Natürlich könne der sich darauf zurückziehen, keine Änderung zu wollen. »Aber dann sagt er ganz klar: Uns ist das soziale Erhaltungsrecht, uns ist der Milieuschutz, uns sind die Mieter egal«, erklärt Schäfer.

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