Kinderarmut: Butterwegge erwartet Veränderungen

Warum der Ungleichheitsforscher vermutet, dass die Politik jetzt eher etwas gegen Kinderarmut tut

  • Eva Roth
  • Lesedauer: 4 Min.

Ausgerechnet die Bertelsmann-Stiftung prangert seit einiger Zeit nachdrücklich die Armut von Kindern an: »Es ist nicht ihre Schuld, wenn sie in finanzieller Armut aufwachsen. Sie können nichts dafür!«, heißt es in einer Publikation von 2020, die viele negative Folgen für die jungen Menschen aufzählt, etwa geringe Bildungschancen und psychische Belastung. »Das sind Krokodilstränen«, kommentiert Christoph Butterwegge diese Klage. Schließlich habe die Bertelsmann-Stiftung selbst entscheidende Vorarbeit für die Agenda 2010 und die Hartz-Reformen geleistet, durch die viele Familien in die Armut gedrängt worden seien. Ihre jetzige Position hält Butterwegge gleichwohl für politisch relevant: »Es ist wahrscheinlicher, dass die Bundesregierung etwas gegen Kinderarmut tut, wenn eine so einflussreiche Organisation wie die Bertelsmann-Stiftung Druck macht«, sagt der Ungleichheitsforscher »nd.DieWoche«.

Bildungsdefizite als Problem für den Wirtschaftsstandort

Für arme Kinder ist es schwerer, einen hohen Bildungsabschluss zu erlangen, was sich etwa daran zeigt, dass Kinder aus Arbeiterfamilien viel seltener Abitur machen als Gleichaltrige aus Akademikerhaushalten. »Diese sozial bedingten Bildungsdefizite sind inzwischen ein Problem für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Genau deshalb drängt die Bertelsmann-Stiftung darauf, die Kinderarmut zu verringern«, vermutet der Kölner Politikwissenschaftler. »Wenn ökonomische Interessen hinter dem Kampf gegen die Kinderarmut stehen, dann passiert eher etwas.«

Tatsächlich beklagt auch das unternehmensnahe Institut der deutschen Wirtschaft, dass Bildung zu stark von der sozialen Herkunft abhängt. Und die Bertelsmann-Stiftung plädiert denn auch schon länger für ein Teilhabegeld oder eine Grundsicherung für Kinder. Dass die Ampelparteien nun eine Kindergrundsicherung planen, begrüßt Butterwegge, und zwar schlicht deshalb, weil sie – richtig konstruiert – armen Kindern helfe.

»Drei-Klassen-System«

Bislang gebe es ein Drei-Klassen-System, erläutert der Forscher: Die ärmsten Familien sind auf Hartz IV angewiesen und haben keinen Anspruch auf Kindergeld. Haushalte mit durchschnittlichen Einkommen erhielten für das erste und zweite Kind je 219 Euro Kindergeld im Monat. Besserverdienende in der Chefarzt-Liga könnten pro Kind dagegen über 314 Euro im Monat von der Steuer absetzen – »ihre Kinder sind dem Staat am meisten wert«. Ob die Ampelkoalition mit der Einführung einer Grundsicherung auch dieses Steuerprivileg für Reiche abschafft, sei ungewiss.

Sicher sei hingegen, dass arme Kinder noch ärmer werden, wenn die Koalition aus SPD, Grünen und FDP nicht sofort handle. Denn am 1. Januar steigen die Hartz-IV-Sätze für Sechs- bis 13-Jährige gerade einmal um zwei Euro oder 0,65 Prozent. Dadurch würden die hohen Preissteigerungsraten nicht ausgeglichen. Dass der geplante Sofortzuschlag für Kinder schon Anfang des Jahres ausgezahlt wird, sei fast unmöglich, sagt der Kölner Professor.

Um die Situation von armen Erwachsenen zu verbessern, plant die Dreierkoalition einen höheren Mindestlohn von zwölf Euro, was Christoph Butterwegge für einen ersten wichtigen Schritt hält. Nicht geplant ist hingegen eine deutliche Steigerung der Hartz-IV-Sätze für Erwerbslose und Aufstocker. Selbst wenn man ausschließlich etwas für Kinder tun wolle, sei dies falsch. »Wenn Eltern finanzielle Not leiden, leiden auch ihre Kinder. Wenn die Mutter den Strom nicht zahlen kann, sitzt auch die Tochter trotz Kindergrundsicherung im Dunkeln.«

Dass die neue Regierungskoalition keine pauschale Anhebung der Grundsicherung plant, passt in das Bild, das vielfach von Erwachsenen gezeichnet wird, die Arbeitslosengeld II beziehen. Ihnen wird häufig unterstellt, dass sie mitverantwortlich für ihre Lage seien und dass sie »Anreize« für eine Arbeitsaufnahme bräuchten, etwa in Form niedriger Hartz-IV-Sätze. Kinder seien dagegen der Inbegriff von »würdigen Armen«, sagt Butterwegge. Niemand gibt ihnen die Schuld an ihrer sozialen Misere. Im besseren Fall werden politische Versäumnisse dafür verantwortlich gemacht, im schlechteren ihre Eltern.

Auch mittellose alte Menschen seien früher »würdige Arme« gewesen, sagt Butterwegge. Doch das habe sich seit Einführung der Riesterrente im Jahr 2001 allmählich geändert. Nun werde ihnen zunehmend die Schuld gegeben, wenn sie nicht privat fürs Alter vorgesorgt hätten. Dabei wird beiseite geschoben, dass Reinigungskräfte, Lagerarbeiter sowie prekär beschäftigte Künstler und Wissenschaftlerinnen kaum etwas sparen können.
Statt die Sozialleistungen für alle zu erhöhen, wollen die Ampelparteien auch für Rentnerinnen und Rentner, die auf Grundsicherung angewiesen sind, die »Möglichkeit ausweiten, mit einer Erwerbstätigkeit ihr Einkommen zu verbessern«. Wenn sich dann eine fitte 70-Jährige nicht ein paar Euro dazuverdient, ist sie eben womöglich selbst schuld.

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