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Weniger Arbeit, mehr Wohlstand?

Viele Vollzeitbeschäftigte wollen kürzer arbeiten. Mehr freie Zeit steigert nicht das Bruttoinlandsprodukt, ist für die Menschen aber wertvoll

  • Eva Roth
  • Lesedauer: 4 Min.
Zu viel Arbeitsstress, zu wenig selbstbestimmte Zeit – beides schmälert den Zeitwohlstand.
Zu viel Arbeitsstress, zu wenig selbstbestimmte Zeit – beides schmälert den Zeitwohlstand.

Politiker und Ökonomen fordern derzeit wieder längere Arbeitszeiten. Das widerspricht jedoch den Bedürfnissen vieler Menschen. Anlässlich der wiederaufgeflammten Debatte haben wir zusammengestellt, wie sich die tatsächlichen und gewünschten Arbeitszeiten entwickelt haben. Und wir fragen nach dem Wert von freier Zeit.

Kanzler Friedrich Merz fordert, dass die Menschen mehr arbeiten, damit der »Wohlstand dieses Landes« erhalten bleibe. Dagegen wünschen sich insbesondere Vollzeitbeschäftigte kürzere Arbeitszeiten, und zwar schon seit vielen Jahren. Das zeigen Befragungen des sozio-oekonomischen Panels (Soep), die das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung bereits 2023 für eine Studie ausgewertet hat.

Arbeitszeitdebatte – Weniger Arbeit, mehr Wohlstand?

Im Jahr 2021 wollten Frauen mit Vollzeitjob im Schnitt rund sechs Stunden pro Woche weniger arbeiten und Männer 5,5 Stunden weniger. Und zwar auch dann, wenn das Gehalt entsprechend sinkt. Mehr Zeit jenseits des Jobs ist für viele demnach so wertvoll, dass sie dafür etwas weniger materiellen Wohlstand akzeptieren würden.

»Zeitwohlstand ist eine eigene Form von Wohlstand«, sagt Jürgen Rinderspacher, Zeitforscher an der Universität Münster, »nd.DieWoche«. Zum Zeitwohlstand gehöre zunächst einmal genügend Zeit jenseits der Erwerbsarbeit sowie ausreichend selbstbestimmte Zeit. Wichtig sei auch, dass Menschen gemeinsame Zeit verbringen können, etwa am Wochenende, und dass die Erwerbsarbeit nicht so verdichtet ist, dass man die Arbeitszeit als Lebenszeit im Grunde abschreiben kann.

Viele Beschäftigte wollen nun mehr Zeit jenseits des Jobs. Angesichts der zunehmenden Verdichtung der Arbeit sei eine generelle Arbeitszeitverkürzung, die auf eine kürzere und gesunde Vollzeit mit 30 Wochenstunden abzielt, nur angemessen, schrieben Ökonom*innen der Arbeitskammer Wien schon vor zwei Jahren. Denn kürzere Arbeitszeiten tragen zum Wohlstand der Menschen bei, betont der Wirtschaftswissenschaftler Daniel Haim von der AK Wien.

Insbesondere Minijobber*innen wollen hingegen im Schnitt länger arbeiten. Schaut man sich alle Beschäftigten zusammen an, wünschen sich die Menschen im Mittel jedoch kürzere Arbeitszeiten.

In der Soep-Erhebung lautete die konkrete Frage: »Wenn Sie den Umfang Ihrer Arbeitszeit selbst wählen könnten und dabei berücksichtigen, dass sich Ihr Verdienst entsprechend der Arbeitszeit ändern würde: Wie viele Stunden in der Woche würden Sie dann am liebsten arbeiten?«

Betrachtet man alle Beschäftigten zusammen, dann ist die durchschnittliche Arbeitszeit pro Kopf seit den 1990er Jahren gesunken, um mehr als zehn Prozent. Dies liegt zunächst einmal daran, dass heute viel mehr Menschen in Teilzeit arbeiten. Seit einiger Zeit geht indes auch die Arbeitszeit von Vollzeitbeschäftigten zurück. Ein wichtiger Grund: Die Leute machen weniger Überstunden, und Arbeitszeitkonten werden abgebaut. Manchmal können Beschäftigte selbst darüber entscheiden. Oft ist jedoch wohl eher die Auftragslage der Unternehmen ausschlaggebend dafür, ob die Leute Mehrarbeit leisten oder Arbeitszeitkonten abbauen.

Das gesamte Arbeitsvolumen in Deutschland ist in den vergangenen 20 Jahren stark gewachsen. Im vorigen Jahr haben alle Beschäftigten zusammen so viel gearbeitet wie noch nie seit der Wiedervereinigung. Und das, obwohl die Arbeitszeit pro Kopf gesunken ist. Möglich war dies, weil hierzulande viel mehr Menschen als früher erwerbstätig sind, insbesondere Frauen und auch Ältere. Zudem arbeiten mehr Migrant*innen als früher in Deutschland, in Pflegeeinrichtungen, Fabriken und Büros. Anstatt jetzt noch mehr Arbeit zu fordern, fragen inzwischen auch manche Ökonom*innen: Welche Arbeit ist wichtig und was kann man lassen?

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist in der politischen Debatte eine enorm wichtige Kenngröße. Seit der Wiedervereinigung ist das BIP stark gestiegen, zuletzt ging es etwas zurück. Ein zentrales politisches Ziel ist nun, dass die Wirtschaft wieder wächst, Klimawandel hin oder her. Auch deswegen wird Mehrarbeit gefordert: Sie soll dem Wachstum dienen. Implizit wird dabei ein steigendes Bruttoinlandsprodukt mit mehr Wohlstand gleichgesetzt. Dabei sagt das BIP nichts aus über die Verteilung des Wohlstands. Und Zeitwohlstand in Form von selbstbestimmter Zeit jenseits der Erwerbsarbeit spielt hier gar keine Rolle.

Quellen für die Grafiken: Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), Statistisches Bundesamt

Arbeitszeitdebatte – Weniger Arbeit, mehr Wohlstand?
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