• Kultur
  • »All right. Good night.« von Rimini Protokoll

Die Mechanik der Schicksale

»All right. Good night.« ist eine theatrale Spurensuche nach dem verschollenen Passagierflugzeug MH370 - und nach der persönlichen Erinnerung

  • Michael Wolf
  • Lesedauer: 7 Min.
Ein musikalischer Bühnenessay: »All right. Good night.«, eingeladen zum Berliner Theatertreffen
Ein musikalischer Bühnenessay: »All right. Good night.«, eingeladen zum Berliner Theatertreffen

In der Nacht des 8. März 2014 verschwand eine Boeing 777 mit 239 Personen an Bord von den Kontrollschirmen. MH370 sollte von Kuala Lumpur nach Peking führen. Wohin die Maschine tatsächlich flog, nachdem der Kapitän zuletzt Kontakt aufgenommen hatte, ist weiterhin ungeklärt. Mehr als 200 Millionen Dollar wurden in die Suche nach dem Wrack investiert, ergebnislos. Sein Verbleib gilt als eines der größten Rätsel der Luftfahrtgeschichte.

Bis heute geraten immer wieder Theorien in die Welt. Zuletzt errechnete ein Ingenieur aus dem Taunus eine Stelle im südlichen Indischen Ozean, an der die Maschine gesunken sein soll. Er ist nicht der erste und wird nicht der letzte sein, der meint, die Stelle ganz sicher bestimmen zu können. Journalisten, Ozeanografen und Verschwörungstheoretiker arbeiten sich seit Jahren an dem Fall ab. Nun nimmt sich ihm auch eine Theaterregisseurin an. Helgard Haug bringt am Berliner Hebbel am Ufer ihre Inszenierung »All right. Good night.« heraus. Der Titel ist angelehnt an den letzten Funkspruch des Kapitäns.

Dieser ist eine mögliche Hauptfigur in der Geschichte der Katastrophe. Auf einem Flugsimulator in seiner Wohnung fand man eine Route, die jener verdächtig ähnelt, der das Flugzeug wahrscheinlich folgte. Er hatte sie vom Gerät gelöscht. Hat der Pilot sein Flugzeug absichtlich ins Meer stürzen lassen? Vielleicht. Aber diese Theorie ist so gut wie viele andere. Eine französische Journalistin vermutet, dass das Flugzeug militärisches Material transportierte. Jemand habe von dieser brisanten Ladung ablenken wollen. Oder waren doch Terroristen im Spiel? Entführer? »Aber warum ein Flugzeug zu entführen und sich dann nicht mehr melden?« Haug lässt ihr Publikum spekulieren. Ihr Text wird auf einen Gaze-Vorhang vor der Bühne projiziert. Gesprochen wird am ganzen Abend kaum ein Wort. Hier ist der Zuschauer ein Leser.

Doch er liest nicht nur, wie die Suche nach dem Flugzeug verläuft. Haug erzählt noch eine weitere Geschichte, die ihres Vaters, der etwa zeitgleich mit dem Verschwinden von MH370 die ersten Anzeichen einer Demenzerkrankung zeigt. Zum Geburtstag des Enkels schickt er vier Karten mit fast identischen Glückwünschen. Zunächst klagt er noch über seine Vergesslichkeit, dann entgeht sie ihm selbst. Bald erkennt er die eigene Tochter nicht mehr, so wie sie ihn oft nicht mehr wiedererkennt, wie sie ihn vor ihren Augen verblassen sieht.

»Ein Stück über Verschwinden und Verlust« lautet der Untertitel von »All right. Good night.«, und hier, so scheint es, treffen sich die beiden Geschichten thematisch und motivisch. Haug montiert sie ineinander, verfolgt einige Sätze lang die Suche nach der Boeing und kehrt dann wieder zu ihrem Vater zurück. Das liest sich dann wie folgt: »Der Pilot sei ›ganz er selbst‹ gewesen, bevor er an Bord ging, bestätigen Kollegen. / Es gibt kein Zurück mehr. Wir räumen die Wohnung des Vaters.«

Neben dem Text hat Haugs zweieinhalbstündige Inszenierung noch zwei weitere Ebenen. Die eine ist äußerst dezent: Zwei Performer, ein Mann und eine Frau, treten hin und wieder auf die Bühne. Sie sagt die nächsten Kapitel an, ihre ist die einzige Stimme, die an diesem Abend live erklingt. Dann rollen sie eine Plane aus und schippen mit Spaten Sand aus Draisinen, verteilen ihn, ein Strand entsteht. Mehrmals verrichten sie kleine Arbeiten auf der Bühne. Wenn sie diese verlassen, laufen sie rückwärts, als wären sie Figuren in einem Video, das gerade zurückgespult wird. Später sitzen sie auf Liegestühlen und schauen den Wellen auf einer Leinwand nach, die ebenfalls im Rewind-Modus dem Horizont entgegenstreben. Mit ihnen am Strand, in sommerlicher Kleidung, sitzen fünf Musikerinnen und Musiker des Zafraan Ensembles, womit die letzte Ebene des Abends genannt wäre. Er ist auch und vor allem ein Konzert.

Die Elektropopmusikerin Barbara Morgenstern hat in Zusammenarbeit mit dem Arrangeur Davor Branimir Vincze den Soundtrack geschrieben. Die Live-Musiker Matthias Badczong (Klarinette), Evi Filippou (Schlagzeug), Josa Gerhard (Violine), Martin Posegga (Saxofon) und Beltane Ruiz (Kontrabass) steuern einen atmosphärischen Klangteppich bei, der jedoch auch immer wieder ausfranst, zaghaft ins Atonale strebend. Melancholische Ambient-Klänge untermalen den projizierten Text, um sich bald darauf beinahe wütend von ihm loszusagen, wenn sich ein Grollen von der Bühne erhebt, sie wie ein Wolkenmeer überspannt, bereit, einen Sturm loszulassen. Weniger den Geschichten von Flugzeug und Vater scheint sich diese Komposition verschrieben zu haben denn der Mechanik ihrer Schicksale, der unerwarteten, unerklärlichen Wendungen und der Überforderung, mit der sich die Angehörigen des Vaters wie die der vermissten Passagiere konfrontiert sehen.

Jeden Tag, so heißt es im Text, gehe eine Gruppe Chinesen zur Malaysischen Botschaft in Peking, um dort nachzufragen: »Gibt es etwas Neues?« Das gibt es zwar immer wieder, einzelne Trümmerteile tauchen auf, doch die Maschine selbst und der Flugschreiber bleiben verschollen. Auch der Vater entwickelt sich immer mehr zu einer Blackbox, häufig weiß man nicht, was in ihm vorgeht. Zunächst trinkt er zu viel, ist vergesslich, hält auf einem Fest vier Mal hintereinander die identische Rede, beschuldigt seine Kinder, eine Wohnung gegen seinen Willen verkauft zu haben. Dann, später, erklärt er sich zum Schöpfer der Welt, glaubt alle Häuser ringsum entworfen und sogar die Ostsee »verwirklicht« zu haben. Er zieht sich in eine eigene, abgeschlossene Welt zurück und lässt seine Angehörigen rätseln, wie es dort wohl aussieht. »Wo bist du?« Die Frage taucht häufiger auf dem Gaze-Vorhang auf, auf den Vater wie auf das Flugzeug bezogen. Haug verknotet sie eher, als dass sie sie miteinander verbände, und kommt dabei nicht ohne sanfte Gewalt aus.

Recht gezwungen wirkt die Parallelisierung mitunter. Schon die Annahme, die Geschichte von der MH370 wäre eine des Verschwindens, ist fragwürdig. Das Flugzeug ist im Gegenteil in höchster Weise anwesend, abgesehen von den Maschinen des 11. September wurde wohl keine Flugnummer weltweit häufiger in die Google-Suchmasken eingegeben.

Diese Ambivalenz von Präsenz und Absenz ist bei Haugs Vater so nicht gegeben. Denn er entgleitet tatsächlich, während die Maschine, zumindest als kulturelles Phänomen - und in dieser Gestalt ist es hier Thema -, die Fantasie und den Grusel von Millionen Menschen beflügelt. Das Flugzeug hat sich in den Köpfen festgesetzt: als quälendes Rätsel. Für die Angehörigen des Vaters dürfte hingegen die Herausforderung in der Nichtvereinbarkeit der Erinnerung an einen kontrollierten, gebildeten Mann mit seinem späteren Verhalten bestehen. Die Engführung der Geschichten ergibt sich damit nicht aus ihnen selbst, die eine hat wenig mit der anderen zu schaffen.

Erfreulich ist dieses formale Experiment dennoch. Denn Haug erfindet hier nebenbei eine ganz neue theatrale Form, die viel Potenzial verspricht: den Bühnenessay. Ihr Wunsch, Theater anders zu denken und zu inszenieren, ja es stets neu zu erfinden, ist auch an diesem Abend Programm, wie in den meisten Arbeiten ihrer Theatergruppe Rimini Protokoll. Zu ihr gehören neben Haug auch noch Stefan Kaegi und Daniel Wetzel. Sie arbeiten gemeinsam oder allein unter diesem Label, das es in den letzten 20 Jahren zu großer Prominenz gebracht hat.

Rimini Protokoll haben mit der Idee Furore gemacht, keine Schauspieler, sondern ganz normale Leute, »Experten des Alltags« auf die Bühne zu schicken. Sie haben Theater ganz ohne Menschen gemacht, als sie einen Roboter-Nachbau des Schriftstellers Thomas Melle auf die Bühne stellten, sie haben »Das Kapital« aufgeführt und das Kunststück geschafft, Statistiken spannend und berührend zu inszenieren. Auch dieser Abend, wenngleich er konzeptionelle Schwächen aufweist, deutet darauf hin, wie viel man auf und mit den Bühnen noch anstellen kann, was es hier noch alles zu entdecken gibt. Die Suche lohnt.

Vorstellungen im Rahmen des Theatertreffens: 13. und 14. Mai

www.berliner-festspiele.de

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