Das geteilte Erbe des Kommunismus

Die Linke im Westen hat sich immer auch im Verhältnis zur Russischen Revolution definiert. Nach dem Ende der Sowjetunion ist eine neue Beziehung zur kommunistischen Vergangenheit möglich

  • Bini Adamczak
  • Lesedauer: 7 Min.
Nach dem Ende der Geschichte: Im Juli 1991 dient der Rote Platz als Kulisse für einen Film, der ein neues Euro-Disney-Resort bewirbt
Nach dem Ende der Geschichte: Im Juli 1991 dient der Rote Platz als Kulisse für einen Film, der ein neues Euro-Disney-Resort bewirbt

Wie sozialistisch der Realsozialismus war, war unter Sozialistinnen immer umstritten - heftig umstritten. Die Bezeichnungen, mit denen die globale Linke versuchte, das Problem weniger zu benennen als zu bannen, sind so vielzählig und zugleich so eintönig, dass sie zusammengesampelt einen schlechten Rap ergeben: Staatskapitalismus, Staatssozialismus - asiatischer Despotismus, roher Kommunismus - Totalitarismus, Synkretismus - integrierter Etatismus, bürokratischer Kollektivismus - degeneriert, deformiert - Stamokap, Histomat, Papperlapapp.

Daran, welcher Begriff gewählt wurde, ließ sich auch die politische Nähe zur Sowjetunion bemessen. Bürgerliche Positionen verhedderten sich im Begriff des Totalitarismus oder sprachen etwas nüchterner von Entwicklungsdiktatur und Modernisierungsgesellschaft, trotzkistische Autorinnen meinten, es handele sich um einen Arbeiterstaat, der allerdings von dem Adjektiv »degeneriert« oder - sofern der politische Horizont in den 1920er Jahren endete - auch von dem Adjektiv »entartet« ergänzt wurde. Und noch kritischere, etwa linkskommunistische, Positionen, verweigerten der UdSSR gänzlich die legitimierende Anerkennung und bezeichneten sie gleich als Kapitalismus der einen oder anderen Art, als Staatsmonopolkapitalismus neuen Typs etwa.

Marcel van der Linden, dessen Studie »Von der Oktoberrevolution zur Perestroika. Der westliche Marxismus und die Sowjetunion« insofern ungewöhnlich ist, als sie entgegen aller Vorwortkonventionen »Vollständigkeit beansprucht«, meint, dass der Drang zu klassifizieren oft vor dem Interesse zu analysieren gestanden habe. Es sei vor allem darum gegangen, »ein geeignetes Etikett zu finden, das der kritisierten Gesellschaft angeheftet werden konnte. So bekam ein Großteil der Begriffsbildung den Charakter einer Beschwörung.«

Aber auch und gerade innerhalb dieses Klassifizierungskampfes blieb die russische Frage der Prüfstein der Auseinandersetzungen um sozialistische Politik. An ihrer Beantwortung ließen sich Distinktionen vollziehen und Identitäten errichten, zumindest solange die Sowjetunion existierte. Während mit ihrem Untergang auch der Diskurs über sie zunächst erlosch, schien laut Loren Goldner noch in den 70er Jahren die »Geschichte der russischen Revolution und der Komintern von 1917 bis 1928 der Schlüssel zum Universum als Ganzem zu sein. Wenn jemand die Niederlage der russischen Revolution 1919, 1921, 1923, 1927 oder 1936 oder 1953 ansetzte, hatte man eine ziemlich gute Vorstellung davon, was er über so ungefähr jede andere politische Frage auf der Welt dachte: das Wesen der Sowjetunion, China, das Wesen der KPen auf der Welt, das Wesen der Sozialdemokratie, das Wesen der Gewerkschaften, die Einheitsfront, die Volksfront, nationale Befreiungsbewegungen, Ästhetik und Philosophie, das Verhältnis von Partei und Klasse, die Bedeutung der Sowjets und der Arbeiterräte, und ob hinsichtlich des Imperialismus Luxemburg oder Bucharin recht hatte.«

Die westliche Linke und der Sozialismus

Was am Realsozialismus sozialistisch war, blieb somit vom Aufgang seiner roten Sonne bis zu ihrem Untergang Anlass für Streit, und zwar ohn’ Unterlass. Nur dass der Realsozialismus irgendwie - und das heißt geografisch, staatlich und vor allem militärisch - real war, ließ sich schon nach einigen Jahren nur noch schlecht bestreiten. Die Tatsache ihres Sieges und ihrer - historisch erstmaligen - Verteidigung verschaffte der Russischen Revolution und den an sie gebundenen Institutionen eine Autorität, die nicht selten Immunität gegenüber Kritik bedeutete. Ihre bloße Existenz erhielt den Charakter eines materialistischen Arguments.

Daran gemessen musste jede Rede, jeder Text vergeistigt, körperlos, kurz, idealistisch erscheinen. Hieraus wird die häufige Lähmung internationaler Kommunistinnen verständlich, deren Revolutionsversuche nicht siegreich waren, sondern wie etwa in Deutschland in vernichtende Niederlagen mündeten. Nicht einmal, so heißt es in der Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss, den Acht-Stunden-Tag konnten sie erkämpfen, wie hätten sie sich anmaßen können, der UdSSR und mit ihr der Moskauer Führung Ratschläge und Belehrungen zu erteilen?

Im Laufe der Geschichte der Sowjetunion veränderte sich auch die Auseinandersetzung der Linken mit dem Realsozialismus. Sie lässt sich grob in vier Phasen einteilen. Die erste Phase umfasst im engeren Sinne die Revolution sowie ihre Vorgängerin und erstreckt sich von 1905 bis in die Mitte der 1920er Jahre. Die Debatten, prominent geführt von Karl Kautsky, Rosa Luxemburg, Lenin, Trotzki und Bucharin, drehten sich vor allem um die Frage, ob die Revolution verfrüht eingetreten sei, ob also vor der sozialistischen eine bürgerliche Entwicklung stehen müsse, sowie um das Verhältnis von Demokratie und Diktatur.

Die zweite, die stalinistische Phase, reicht von Ende der 20er Jahre bis zur Mitte der 50er Jahre. In dieser Phase, die im kollektiven Gedächtnis zu Recht mit Schauprozessen, Großem Terror und Gulag verbunden wird, war die Zustimmung zur Sowjetunion durch westliche Marxistinnen überraschend hoch. Das liegt daran, dass die Phase des Terrors zugleich die Phase des großen Traums war: des Traums einer planmäßigen Organisation der Gesellschaft, die es mittels hochbeschleunigter nachholender Industrialisierung schafft, eine Agrargesellschaft in ein Weltimperium zu verwandeln. Das bedeutete nicht nur Militarisierung, Fordismus, Disziplin, es bedeutete auch Alphabetisierung, Geschlechtergleichheit und Erhöhung der Lebenserwartung.

Die Resultate schienen die Mittel zu rechtfertigen; während die kapitalistische Welt taumelte, ging die Sowjetunion ziemlich unbeschadet aus der Weltwirtschaftskrise von 1929 hervor. Den Höhepunkt dieser Entwicklung bildete der Sputnik-Schock 1957, als es der Sowjetunion gelang, noch vor den USA einen Satelliten in die Erdumlaufbahn zu schießen. Tatsächlich hatte hier bereits die dritte Phase begonnen, die nachstalinistische Phase des Kalten Krieges, für die der Begriff des real existierenden Sozialismus im engeren Sinne steht. Die linke Diskussion des Realsozialismus eskalierte mit den Rebellionen und Reformbewegungen in Osteuropa 1953, 1956 und vor allem 1968. Vermutlich hatten sich selbst nach dem Hitler-Stalin-Pakt 1939 nicht so viele Kommunistinnen von der Komintern losgesagt wie nach der Niederschlagung des Prager Frühlings.

Mit den weltweiten revolutionären Bewegungen von 1968 verlor die Sowjetunion ihre unmittelbare Bedeutung für den Großteil der globalen sozialistischen Bewegung, die sich zum Zeichen ihrer Erneuerung nun Neue Linke nannte. An die Stelle der Sowjetunion traten andere Hoffnungsträgerinnen, China, Vietnam, Jugoslawien zuallererst, sowie eine Vielzahl antikolonialer, aber auch metropolitaner Bewegungen.

Neue Perspektive nach der Niederlage

Die vierte Phase im Verhältnis der globalen Linken zur Sowjetunion setzte 1989 ein, mit der Niederlage der UdSSR im Kalten Krieg. Die Auseinandersetzung mit dem Realsozialismus findet nun nach dem Ende des Sozialismus statt, das heißt zunächst auch nach dem Ende der Geschichte. Jenem Ende der Geschichte, das nicht nur ein geschicktes Schlagwort des konservativen Philosophen Francis Fukuyama ist, nicht nur Ideologie also, sondern auch eine selbst geschichtliche Realität darstellt, die etwa 20 Jahre bis zur Weltwirtschaftskrise und den folgenden globalen Rebellionen anhält.

Solange die Systemkonkurrenz andauerte, musste sich jede sozialistische Kritik des Realsozialismus mit der Frage auseinandersetzen, ob sie nicht ungewollt dem kapitalistischen Westen nutze und also jeder Form des Sozialismus schade. Das änderte sich objektiv nach 1989. Die neue Konstellation, in der die posthistorische Epoche mit der Epoche der Russischen Revolution steht, ermöglicht eine veränderte Beziehung zum kommunistischen Erbe, das seit dem historischen Ableben seiner Erbverwalterinnen wieder zum Gemeingut geworden ist: Common Communism.

Als solches globales Gemeinsames verlangt es auch gerade in seinen schmerzenden Anteilen danach, von all jenen reklamiert zu werden, die für die Verwirklichung des Traums einer solidarischen Welt ohne Herrschaft kämpfen. Nennen wir sie der Einfachheit halber Linke und ihr Projekt die Realisierung des Sozialismus. Sie können nun mit wenig Aufwand ein Verhältnis zum Realsozialismus einnehmen, das weder in stalinistischer Affirmation noch renegatischer Dissoziation verschwindet. Maximierung der Kritik ohne Externalisierung des Kritisierten. Schließlich konnte die Russische Revolution ja nur deshalb scheitern, weil sie siegreich gewesen war. Nur weil sie anders als ihre Vorgängerinnen nicht von äußeren Feinden niedergeschlagen wurde, konnte sie an sich selbst zugrunde gehen.

Nachdem ihre Niederlage 1991 unbestreitbar eintrat, wurde ebenso klar, dass dieses Scheitern schon Jahrzehnte zurücklag. Seit der historischen Epoche der Posthistoire fällt Linken so eine Erkenntnis mit der Leichtigkeit eines geschichtlichen Zufalls zu, für die Dissidente verschiedenster Fraktionen jahrzehntelang unter Bedingungen von Minorisierung und Exkommunizierung hartnäckig gekämpft hatten. Die Erkenntnis nämlich, dass die kommunistische Kritik des Kommunismus nicht dem Antikommunismus dient.

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