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Kein Kollaps, Ende offen
Der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze beschreibt in seinem Buch »Welt im Lockdown« eine fiskalpolitische Weltrevolution als Reaktion auf die Pandemie. Unsicher sei aber, ob sie den Neoliberalismus überwindet oder bloß weiter am Leben hält
Bald zwei Jahre nach Beginn der Pandemie und über ein Jahr nach dem der Impfkampagne könnte man denken: Bitte nicht noch ein Corona-Buch! Und dann kommt der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze und legt das wohl bislang beste Buch zur Pandemie vor - das beste auch deshalb, weil es darin um so viel mehr als nur um Corona geht. In »Welt im Lockdown« nimmt der an der Columbia University in New York lehrende Professor die Pandemie als globales Phänomen ernst und seziert die Corona-Krise als Weltwirtschaft im historischen Umbruch.
Dabei handele es sich nicht nur »um die bei weitem schärfste wirtschaftliche Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg«, schreibt Tooze, sondern in der gesamten »Geschichte des modernen Kapitalismus hat es noch nie einen Moment gegeben, in dem fast 95 Prozent der Volkswirtschaften auf der Welt gleichzeitig einen Rückgang des Pro-Kopf-BIP zu verkraften hatten, wie es in der ersten Hälfte des Jahres 2020 der Fall war.« Für den Präsidenten des besonders gebeutelten Ecuador, Lenín Moreno, war die Pandemie gar »der echte Erste Weltkrieg«. Gleichwohl war es, wie Tooze präzisiert, »ein Krieg, für den man sich entscheiden musste« - aber auch entscheiden konnte.
Von allen bisherigen Krisen unterscheidet die Coronakrise, dass nahezu alle Länder dieser Welt sich mehr oder weniger freiwillig entschieden, einen Großteil ihrer wirtschaftlichen Aktivitäten herunterzufahren - und zwar nicht zuletzt, weil sie es sich (mehr oder weniger) leisten konnten. Oder in den Worten des Ökonomen John Maynard Keynes aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs: »Alles, was wir tatsächlich tun können, können wir uns auch leisten.« Die »Politiker der Mitte«, denen der Kampf gegen die Krise in weiten Teilen vor allem Europas zufiel, konnten sich den Erfordernissen eines neukeynesianischen »Regimes jenseits des Neoliberalismus« kaum entziehen. Dennoch diente ihre finanzpolitische Stabilisierung wie schon 2008 am Ende vor allem »den Interessen derjenigen, die am meisten zu verlieren hatten«, so Tooze.
Historische Umbrüche
Trotzdem hat das Jahr 2020 nach Adam Tooze drei historische Brüche mit der politischen Ökonomie der Nachkriegszeit gebracht: Neben dem Ende des neoliberalen Paradigmas waren dies ein allgemeines Anerkennen der Herausforderungen durch den Klimawandel und der Notwendigkeiten eines »Green New Deal« - sowie nicht zuletzt der Aufstieg Chinas. Wenn Tooze uns all diese Facetten bereits in der Einleitung präsentiert, liefert sein Buch anschließend eine detaillierte Schilderung der Ereignisse und Entscheidungen des Jahres zwischen Xi Jinpings öffentlichem Eingeständnis des Sars-CoV-2-Ausbruchs am 20. Januar 2020 und Joe Bidens Amtseinführung als Präsident der USA am 20. Januar 2021. Doch auch hier findet Tooze zunächst einen übergeordneten Rahmen, und zwar mit einem Begriff des Soziologen Ulrich Beck: »organisierte Unverantwortlichkeit«.
Diese beginnt schon damit, dass allen globalen Anstrengungen der Gesundheitsförderung zum Trotz zu Beginn des 21. Jahrhunderts auch in reichen Ländern noch immer Armut eines der größten Krankheits- und Todesrisiken darstellt. Die erfolgreiche Bekämpfung der bekannten Infektionskrankheiten wurde nach 1945 eine Ost und West übergreifende Bemühung. Das steht aber den seit dem späten 20. Jahrhundert in immer höherer Frequenz neu auftretenden Erregern eine Weltgesundheitsorganisation (WHO) gegenüber, deren Jahresbudget kleiner ist als das eines einzigen Großstadtkrankenhauses. Doch auch die Krankenhäuser sind längst nicht mehr der Logik eines umfassenden Katastrophenschutzes, sondern vor allem der des Marktes unterworfen.
Dabei lässt sich mit gutem Grund behaupten, dass das Versäumnis einer globalen Pandemieabwehr mindestens »an zweiter Stelle« der »größten Marktversagen der Geschichte« rangiert (gleich hinter dem fehlenden Preis für CO2-Emissionen), wie Tooze im Anschluss an den Ökonomen Nicholas Stern festhält. Denn auch das menschliche Leben hat heutzutage ein Preisschild. Der »Wert eines statistischen Lebens« beträgt etwa für das US-Gesundheitsministerium zehn Millionen Dollar - abgeleitet daraus, was die Belegschaft eines großen Unternehmens in Summe an Lohnkürzungen hinnehmen würde, um die Wahrscheinlichkeit eines Todesfalls zu verringern. Doch auch solche atemberaubend skalierbaren Zahlen sind keineswegs immer ein »zwingendes Handlungsmotiv«, wie sich etwa an dem Umstand ablesen lässt, dass sich die reichen Länder bis heute nicht einfach darauf einigen können, dem Rest der Welt eine sofortige Impfung zu bezahlen.
Nervöse Aktienmärkte
Doch auch wenn es den meisten Regierungen der Welt weiterhin äußerst schwerfällt, sich auf die historische Zäsur Corona einzustellen, ist das einigen unabhängigen Institutionen, vor allem den Zentralbanken, etwas besser gelungen. Während nach Xis später Offenbarung Anfang 2020 überall außerhalb Chinas noch die politischen Reaktionen herausgezögert wurden (was Tooze minutiös nachzeichnet), begannen Ende Februar 2020 die Aktienmärkte nervös zu werden - bis es Mitte März schließlich in New York zu den größten Verlusten seit 1987 beziehungsweise 1929 kam. Noch beunruhigender - und im Vergleich zu früheren Krisen neu - war jedoch die Tatsache, dass im Lauf des März auch der Markt für US-Staatsanleihen einbrach, im Normalfall die sichersten Anlagen der Welt, »auf denen das gesamte Gebäude der privaten Finanzwirtschaft ruht«, wie Tooze uns wissen lässt.
Es gibt wohl kaum jemanden, der diese Zusammenhänge so kenntnisreich und zugleich spannend schildern kann wie Adam Tooze, der in seinem Buch »Crashed« (2018) schon die Finanzkrise von 2007ff beschrieben hat. Doch 2020 waren nicht nur die Banken betroffen. Die ganze Welt stieß ihre US-Anleihen ab, um an Dollar-Cash zu kommen. Das weltweite Finanzsystem drohte zusammenzubrechen. An diesem Punkt hatte der Chef der US-Notenbank (Fed), Jerome Powell, seinen »‚Whatever it takes‘-Moment«, wie Tooze in Anspielung an den ehemaligen EZB-Chef Mario Draghi formuliert. Nun begann die Fed nach und nach mit dem Kauf amerikanischer Staatsanleihen in nie dagewesenem Ausmaß: »Auf dem Höhepunkt des Programms erwarb die Fed Anleihen mit einer Rate von einer Million Dollar pro Sekunde. Innerhalb weniger Wochen kaufte sie fünf Prozent des 20-Billionen-Dollar-Marktes.«
Die gigantische Aktion zeigte Wirkung. Die Börsen erholten sich und kletterten bis zum Sommer auf Rekordniveau. Die Reichen waren wieder reich geworden - und wurden reicher. Weltweit zog nun die Fiskalpolitik nach. Die größten Hilfspakete der Geschichte wurden geschnürt, in den USA im Frühjahr 2020 allein 2,2 Billionen Dollar, weltweit wurden bis Januar 2021 etwa 14 Billionen Dollar in die Systeme gepumpt. Im Mai 2020 warfen schließlich sogar die strengen EU-Institutionen ihre Prinzipien zur Verschuldung über Bord: Unter Führung Frankreichs und Deutschlands wurde ein beispielloses gemeinschaftlich schuldenfinanziertes Notprogramm aufgelegt. »Covid«, paraphrasiert Tooze Angela Merkels historischen Sinneswandel, »sei die Art von Krise, die zeige, wie obsolet der Nationalstaat sei.«
Trotzdem kein Aufbruch
Die große Leistung von »Welt im Lockdown« besteht darin, diese weltweiten fiskalpolitischen Revolutionen erstmals in ihrem Gesamtzusammenhang so ausführlich wie pointiert nachzuzeichnen. Tooze macht dabei aber auch eines deutlich: Solange die neue Fusion aus Geld- und Fiskalpolitik weiterhin »im Rahmen der neoliberalen Hinterlassenschaften« von Hyperglobalisierung bis hin zu weiter wachsender Ungleichheit stattfindet, ähnelt sie weniger einem »neuen Gesellschaftsvertrag« als vielmehr einem »schlecht konzipierten Monster«.
Der größere Kontext des ambitionierten Aufstiegs Chinas zum Global Player und neuen Klimaretter sowie der demokratischen Krise der USA rund um die Abwahl Donald Trumps macht die Lage nicht unkomplizierter. Während China die Welt zur Auseinandersetzung damit zwingt, was es 100 Jahre nach Gründung der Kommunistischen Partei »den Marxismus des 21. Jahrhunderts nennt«, ist Joe Bidens zunächst riesig wirkendes Langzeitkonjunkturprogramm nicht nur »viel zu wenig« für eine echte progressive Transformation. Es wird ihm derzeit auch von der eigenen Partei im Kongress zerrissen.
Auch in Deutschland wurde die Chance zu einem echten politischen Aufbruch wohl verpasst. Schon im Herbst hatte Tooze in der »Zeit« vor einem Finanzminister Christian Lindner gewarnt. Die Ad-hoc-Krisenpolitik - so innovativ sie mitunter ausfallen mag - wird, so das Fazit von Toozes Buch, auch trotz der gewaltigen Herausforderungen dieses Jahrhunderts zunächst nicht von einem angemessen kohärenten und groß angelegten Transformationsplan abgelöst werden. Offen ist noch, ob es sich nicht letztlich doch eher um eine »hegemoniale Strategie« für den »Endsieg des Neoliberalismus« handelt, wie Tooze kürzlich im Wirtschaftspodcast »Wohlstand für alle« zu bedenken gab.
Adam Tooze: Welt im Lockdown. Die globale Krise und ihre Folgen. C. H. Beck, 408 S., geb., 27 €.
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