Vor dem Virus sind nicht alle gleich

Neuere Publikationen zur Corona-Pandemie zeigen, dass es um soziale Ungleichheit geht - gerade auch bei Seuchen und ihrer Bekämpfung

  • Jakob Hayner
  • Lesedauer: 8 Min.

Sind Seuchen die »großen Gleichmacher« der Geschichte? Dass sich die Menschheit im Augenblick der Gefahr zusammenrauft, ist eine romantische Vorstellung - mit dem Nachteil, dass sie durch die Geschichte vielfach widerlegt ist. Ob Pest oder Cholera, immer gingen die Wohlhabenden auf Abstand zu den Armen und überließen sie ihrem Los. »Auf Abstand« lautet der Titel von Malte Thießens »Gesellschaftsgeschichte der Coronapandemie«. Es ist eine der zahlreichen wissenschaftlichen Neuveröffentlichungen zu dem allgegenwärtigen Thema, unter diesen aber wohl eine der ambitioniertesten. Geschichtsschreibung aus dem Moment heraus - entgegen der üblichen Vorgehensweise, zu den Ereignissen einen geschichtswissenschaftlichen Sicherheitsabstand einzunehmen. Doch in den vergangenen Jahren schrumpfte dieser immer mehr, die zeitgeschichtliche Forschung hat sich als Deuterin der Tendenzen der Gegenwart etabliert. Der an der Universität Oldenburg lehrende Thießen forscht zu Seuchen, Gesundheit und Vorsorge. Vor ein paar Jahren veröffentlichte er mit »Immunisierte Gesellschaft. Impfen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert« ein Standardwerk der Medizingeschichte, das vor kurzem in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung neu aufgelegt wurde. Beim Impfen, so Thießen an anderer Stelle, ging es »nie allein, oft nicht einmal in erster Linie um Krankheit und Gesundheit. Häufiger ging es um Gesellschafts- und Menschenbilder, um die Klärung staatlicher Pflichten und Ansprüche, um die Normierung individuellen Verhaltens und um eine Verständigung über das Verhältnis von Staat und Staatsbürger«. Eine Impfpflicht hält der Historiker gegenwärtig nicht für sinnvoll.

»Auf Abstand« ist für Thießen das Signum unserer Zeit. Als »seuchenerprobter« Wissenschaftler ist für ihn die weltweite Verbreitung eines Virus weder etwas Neues, noch für seine gesellschaftsgeschichtliche Betrachtung von großem Interesse. »Zu etwas Besonderem wurde Corona«, schreibt er, »wegen der weitgehenden Maßnahmen.« Wie auf Seuchen reagiert wird, zeigt das wahre Gesicht einer Gesellschaft. Wir müssen »uns selbst zum Problem machen«, fordert Thießen. Das beginnt mit der Erkenntnis, dass vorm Virus nicht alle gleich sind, wie es die mittelalterlichen Totentanzdarstellungen suggerieren. »Es kann unterschiedslos jeden treffen« hieß es auch noch im Frühjahr des Jahres 2020, unter anderem von der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer berühmten Ansprache an die Nation. Thießen widerspricht vehement, er zieht Untersuchungen heran, die sowohl die höhere Wahrscheinlichkeit, Viren ausgesetzt zu sein, als auch zu erkranken, für Arme belegen. Krankheiten auslösende Erreger treffen auf soziale Körper - und die könnten in der Klassengesellschaft unterschiedlicher nicht sein. Das gesundheitspolitische Desinteresse an diesem Umstand sieht Thießen am Ende einer langen Entwicklung, in der soziale Ungleichheiten zu individuellen Risiken umgedeutet wurden, der mit eigenverantwortlicher Prävention zu begegnen sei.

Soziales Risiko, individuelle Prävention

Mit Risiko und Prävention sind hier zwei Begriffe genannt, die in der soziologischen Debatte seit Jahrzehnten eine zentrale Rolle spielen und für die Namen wie Niklas Luhmann, Ulrich Beck und Ulrich Bröckling stehen. Beck hatte mit seinem Klassiker »Risikogesellschaft« gezeigt, dass in hochtechnisierten Gesellschaften bestimmte Risiken zu neuen Verteilungskonflikten führen. Nach Luhmann handelt es sich dann um ein Risiko, wenn ein Schaden einer Entscheidung als Ursache zugeordnet werden kann, also potenziell vermeidbar wäre. Im Neoliberalismus werden die Risiken privatisiert, die Einzelnen sind aufgerufen, sich selbst dagegen zu wappnen. Und so landet man bei der Prävention, von Bröckling als »Regime des Monitoring und freiwilliger Selbstkontrolle« bezeichnet. In seiner Geschichte des Impfens hatte Thießen gezeigt, wie sich das »präventive Selbst« aus der modernen Biopolitik und dem »totalen Krieg« entwickelt hat. Nun ist dem »präventiven Selbst« eigen, dass dessen Imperative für alle gleich gelten, bei sehr unterschiedlichen Voraussetzungen. Weil die Solidaritätsappelle dies übergangen haben, seien sie unsolidarisch gewesen, schreibt Thießen und spricht mit dem Soziologen Stephan Lessenich von einem »asozialen Neoliberalismus«. Maßnahmen wie die Lockdowns wurden vor allem von jenen implementiert und unterstützt, die weder die gesundheitlichen, wirtschaftlichen noch bildungsbezogenen Risiken und Folgen zu tragen hatten, die sich die individuelle Prävention leisten konnten. Wer durchs Raster fällt, interessiert nicht weiter - auch im weltweiten Maßstab.

Der von Sarah Lenz und Martina Hasenfratz herausgegebene Band »Gesellschaft als Risiko« untersucht, wie unterschiedlich Risiken sind beziehungsweise wahrgenommen werden, basierend auf Interviews aus dem Frühjahr 2020. Da verbarrikadiert sich die Managerin im Wohneigentum und lässt selbst der Putzfrau keinen Zutritt mehr, man wisse ja nicht, wo die so überall »rumkriecht« und wie sie es mit den Regeln hält. Eine sozial isolierte Putzkraft aus Ghana wird vom Hotelmanagement von einem auf den anderen Tag entlassen, eine Apothekenmitarbeiterin misstraut der Pharmaindustrie, eine Studentin verliert ihren Job und überlegt, wieder zu Hause einzuziehen, ein Student hält die politischen Reaktionen für Panikmache, eine Pflegerin beobachtet mit Sorge, wie sich das Altenheim in ein »Gefängnis« verwandelt, eine Psychologin muss mit anschauen, wie der Lockdown ihre Patienten beeinträchtigt, die Mutter eines schwerstbehinderten Kindes muss sich schon länger mit dem Tod auseinandersetzen - hier wird eine Vielstimmigkeit eingefangen, die andernorts oft nur behauptet wird. In den Essays wird unter anderem gezeigt, dass die extreme Fokussierung auf ein einzelnes Risiko und dessen Quantifizierung andere Risiken unsichtbar macht. Insbesondere für die »Ränder der Pandemie« interessiere sich die »moral community der Mitte der Gesellschaft« nicht, schreiben Tobias Schramm und Larissa Pfaller. Leben in Armut, ohne Wohnung oder ohne Papiere, das alles taucht im offiziellen Diskurs des Auf-Abstand-Gehens nicht auf. Der Band endet mit einer literarischen Erzählung von Christian Baron - über Menschen, die dem Jobcenter und dessen abstrakten Regularien ausgesetzt sind.

Die Linke und Corona

Wie Thießen einen Wandel der Risikovorstellungen diagnostiziert - und damit auch eine neue Ausrichtung der Körper auf zweckrationales Handeln im präventiven Sinne -, sehen auch die Autoren von »Corona und linke Kritik(un)fähigkeit« eine Verschiebung vom Recht auf Gesundheit hin zur individuellen Vorsorgepflicht. Wohin das führt, kann man heute beobachten: Ungleichbehandlung aufgrund des Präventionsstatus ist inzwischen fester und alltäglicher Teil der herrschenden Politik. Irritierend ist, dass sich die Linke in großen Teilen daran keineswegs zu stören scheint. Im Gegenteil werden diejenigen, die das kritisieren, noch verunglimpft, wie die Herausgeber berichten. Die »Verengung des Diskutierbaren« und die linken Verwerfungen nehmen Gerhard Hanloser, Peter Nowak und Anne Seeck als Ausgangspunkt ihrer Publikation. Es geht außerdem um jene, die vom Lockdown besonders betroffen sind, dann um die Profiteure der Krise, um die politische Dimension von Gesundheit und Medizin sowie zuletzt um soziale Konflikte und mögliche Auswege. Die Bundeswehr im Pandemieeinsatz, Propaganda mit Zahlen, Arme in den Krankenhäusern, Tote in den Heimen, »digitale Innovationsoffensive«, das sind nur einige Themen des Bandes, der für linke Kritik am politischen Geschehen der vergangenen zwei Jahre eine kaum verzichtbare Grundlage gibt.

In seinem Beitrag - einer Kritik am Paternalismus der »Zero Covid«-Kampagne - skizziert Felix Klopotek »vier Aspekte der Krise, die sozialen und politischen Widerstand verlangen: die Abwälzung der Kosten und (Gesundheits-)Risiken der Krise auf die Schwachen, die Prekarisierten und die Proleten (selbstverständlich: keine identischen Gruppen); die Durchsetzung autoritärer Formen der Staatlichkeit unter dem Vorwand der Krisenbekämpfung; die Etablierung eines kulturellen und lebensweltlichen Musters der Angst, des sozialen Misstrauens und der voneinander isolierenden Panik; schließlich die Verwandlung der Krise in ein Geschäftsmodell - meinetwegen: eine Produktivkraft für das modernste Kapital, für Big Pharma und den Amazon-Google-Facebook-Komplex«. Eine linke Diskussion käme nicht daran vorbei, sich zu diesen Aspekten zu verhalten - mit allem theoretischen und praktischen Rüstzeug. Doch bisher scheint sich das neue Gebot der Stunde auch in linken Kreisen durchzusetzen, man geht lieber »auf Abstand« - auch zur Gesellschaftskritik. Die Gefahr ist, dass man nicht nur zu den jetzigen Konflikten nichts zu sagen hat, sondern von den künftigen überrollt werden wird. Denn wie Thießen in seiner »Gesellschaftsgeschichte der Coronapandemie« gezeigt hat, haben sich die sozialen Ungleichheiten im krassen Maße verschärft, was eine Zeit lang durch die Rede von der gleichmachenden Gefahr der Seuche verborgen wurde und so kaum zur Sprache kam. Diese Stille wird allerdings kaum ewig anhalten.

Malte Thießen: Auf Abstand. Eine Gesellschaftsgeschichte der Coronapandemie. Campus, 222 S., br., 25 €.

Malte Thießen: Immunisierte Gesellschaft. Impfen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, 400 S., br., 4,50 €.

Sarah Lenz und Martina Hasenfratz (Hg.): Gesellschaft als Risiko. Soziologische Situationsanalysen zur Coronapandemie. Campus, 311 S., br., 35 €.

Gerhard Hanloser, Peter Nowak und Anne Seeck (Hg.): Corona und linke Kritik(un)fähigkeit. Kritisch-solidarische Perspektiven »von unten« gegen die Alternativlosigkeit »von oben«. AG Spak Bücher, 240 S., br.,19 €.

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