Saieds Abrechnung

Die Unzufriedenheit in Tunesien wächst. Jetzt hat der Machthaber zu einem Befreiungsschlag ausgeholt

  • Mirco Keilberth
  • Lesedauer: 8 Min.
Auf einer Tafel in einem Wohnhaus in Tunis stehen die Tage, an denen Mitglieder von »Bürger gegen den Putsch« in den Hungerstreik getreten sind, um gegen den autoritären Kurs von Präsident Saied zu protestieren.
Auf einer Tafel in einem Wohnhaus in Tunis stehen die Tage, an denen Mitglieder von »Bürger gegen den Putsch« in den Hungerstreik getreten sind, um gegen den autoritären Kurs von Präsident Saied zu protestieren.

Bedis Bouziri geht durch den mit Palmen bewachsenen Garten vor seiner Villa. Er zeigt auf ein ausgehobenes, drei Meter tiefes Loch von der Größe eines Fußballfeldes direkt am Ende des Grundstückes. «Hier soll ein Bürogebäude entstehen», sagt der 62-jährige Manager, «scheinbar ohne Baugenehmigung und direkt vor unserem hundert Jahre alten Wohngebiet». Ein Nachbar stimmt dem Unmut über die Bauarbeiten in La Marsa, einem reichen Vorort der Hauptstadt Tunis, lautstark zu. «Durch die Revolution haben wir Meinungsfreiheit gewonnen, ja. Aber unter der Fassade der Demokratie regiert nun ein Netzwerk aus Mafia und Familienclans. Der Investor dieses Baus hat gute Kontakte zum Innenministerium, da hat auch eine Bürgerinitiative keine Chance.»

Bedis Bouziri hat von Initiativen sowieso genug. Als Sohn eines Diplomaten gehört er zwar der kleinen Elite Tunesiens an, aber er hat sich nach der Jasmin-Revolution anders als viele in La Marsa für den politischen Wandel engagiert. Als Mitbegründer von «Budget Participatif», einer Bewegung, die sich für die Bürgerbeteiligung an der Vergabe von Gemeindebudgets eingesetzt hat, war er jahrelang engagiert. «Wir haben versucht, die noch aus französischen Kolonialzeiten stammenden zentralistischen Strukturen aufzubrechen und haben von den Lokalverwaltungen mehr Transparenz bei der Ausgabe von Aufträgen gefordert», sagt Bouziri. Doch selbst in dem reichen La Marsa war es nicht nur die grassierende Korruption, die das in über 20 Gemeinden aktive Projekt scheitern ließ. «Wir müssen als Voraussetzung für den Dialog zwischen Bürgern, Politik und Verwaltung erst einmal eine entsprechende Kultur und Vertrauen schaffen», erklärt er.

Denn selbst bei der Vergabe der Müllabfuhr, dem Aufstellen von Straßenlaternen oder der Regulierung von öffentlichen Räumen fließen in Tunesien Gelder unter dem Tisch. «Politiker und Ministerien nehmen zudem direkt Einfluss auf die Lokalpolitik», erzählt Bouziri. Als der Bürgermeister von La Marsa vor drei Jahren versuchte, mehreren Hotels die Privatisierung von Strandabschnitten zu verbieten, musste er feststellen, dass seine Angestellten, die Polizei und andere Gemeindeagenturen direkte Befehle erhielten, seine Direktive nicht umzusetzen. «Die damalige Tourismusministerin hatte direkt interveniert, auch weil sie mit den Hotelbesitzern verwandt oder befreundet war.»

Trotz dieser Zustände erfährt die autoritäre Politik von Präsident Kais Saied noch immer viel Zustimmung. Das habe mit dem allgegenwärtigen Klientelismus zu tun, sagen viele in La Marsa. Nach der neuesten Umfrage des Institutes Sigma schenken noch immer mehr als 60 Prozent der Tunesier dem Universitätsprofessor ihr Vertrauen, obwohl der als unbestechlich geltende Saied seit seiner Wahl im Oktober 2019 keine großen Versprechungen machte. Anders als der Übergangspremier Abdelhamid Dbaiba im Nachbarland Libyen versucht er nicht, mit Geldgeschenken für Sympathie zu werben. «Ich bin für ihn, obwohl er eigentlich gar nicht kommuniziert», sagt Bouziri. «Wir brauchen einen Wechsel zu einem basisdemokratischen Gesellschaftsmodell», für das Saied schon seit 2011 wirbt.« Das ist seine Überzeugung, dabei kommt er selbst aus jener privilegierten gesellschaftlichen Schicht, die durch Saieds geplante Umverteilung der Macht zu den Verlierern gehören soll. »Aber es geht schon lange nicht mehr darum, welche Region oder welche Partei in Zukunft gewinnt oder verliert. Es geht jetzt um die Zukunft unseres Landes«, sagt er.

Während viele Bürger in Tunesien die Hoffnung auf Reformen langsam, aber sicher aufgegeben haben, eskaliert seit Jahresbeginn der Machtkampf zwischen den politischen Lagern in Tunesien. Vorläufiger Höhepunkt: Noureddine Bhiri, der zweite Vorsitzende der Partei Ennahda, wurde am vergangenen Freitag von Beamten des Innenministeriums vor seinem Haus festgenommen. Die moderaten Islamisten der Ennahda waren nach der Jasmin-Revolution aus ihrem Exil nach Tunesien zurückgekehrt und galten als Hoffnungsträger des Übergangs von der Ben-Ali-Diktatur zur Demokratie. Doch gegen die steigenden Lebensmittelpreise und die Korruption haben auch sie nichts unternommen.

Nun wirft die Staatsanwaltschaft der Parteiführung vor, was die Gegner der zur Ennahda nahestehenden Muslimbrüder-Bewegung schon lange behaupten: Zusammen mit radikalen Netzwerken hätten Bhiri und Parteichef Rahed Ghannouchi junge Tunesier in den Kampf gegen das syrische Regime geschickt. Mehr als 3000 Tunesier, so viele wie aus keinem anderen Land, haben sich in den letzten Jahren der Gruppe Ansar Scharia oder dem Islamischen Staat in Syrien, Irak und Libyen angeschlossen. Gegen den 63-jährigen Bhiri bestehe Terrorverdacht, erklärte Innenminister Taoufik Charfeddine auf einer Pressekonferenz am Montagabend.

Bhiris Rechtsanwalt Samir Dolou sagte vor Medienvertretern, dass sein Mandant in akuter gesundheitlicher Gefahr sei und unter Polizeibewachung in ein Krankenhaus bei Bizerte eingeliefert worden sei. Die Pressestelle der Partei nennt die »Entführung« einen gefährlichen Präzedenzfall und einen weiteren Schritt zur Alleinherrschaft des Präsidenten. Seit Monaten fordert Ennahda-Chef Ghanounchi von Saied die Wiedereröffnung des im Sommer geschlossenen Parlaments und Neuwahlen.

Derzeit regiert Saied das elf Millionen Einwohner zählende Land ohne demokratische Kontrolle. Die aktuelle Regierung von Premierministerin Nadschla Bouden wird regelmäßig zum Rapport in den Präsidentenpalast geladen. Seine Maßnahmen hat Saied mit dem nationalen Notstand begründet, der durch die hohen Corona-Infektionszahlen im Sommer entstanden war.

Die neuerliche »Präventivmaßnahme« gegen den Parteivize Bhiri sei zum Schutz der »nationalen Sicherheit« geschehen, so Innenminister Charfeddine. Die seit 2011 an allen elf Regierungen beteiligte Ennahda-Partei ist der gefährlichste politischer Gegner von Kais Saied, der seit seiner Machtergreifung eigentlich ein Parlament von lokal gewählten Repräsentanten schaffen will. Mit einem Neuanfang will er die Korruption und den Lobbyismus unterbinden.

Doch mit der Kriegserklärung der Justiz gegen die mit knapp 30 Prozent Zustimmung immer noch populäre Ennahda-Partei könnte dem Vorzeigeland des Arabischen Frühlings nun ein brisantes Frühjahr bevorstehen. In den Nachbarländern Libyen, wo der Bürgerkrieg wieder aufflackern könnte, und Algerien, wo die Regierung nur mit einem rigorosen Corona-Lockdown die Bürgerproteste stoppen konnte, schaut man mit Sorge auf das einzig stabile politische System der Region.

Denn das Vorgehen gegen den ehemaligen Justizminister Bhiri birgt viele Gefahren. Erneut könnte es zu Unruhen und Gewalttaten kommen. Längst stehen nämlich die vielen radikalisierten und aus Syrien zurückkehrenden Islamisten im Fokus der Öffentlichkeit. Zumal noch immer zwei Morde an bekannten linken Aktivisten nicht aufgeklärt worden sind: Shokri Belaid im Februar 2013 und Mohamed Brahmi wenige Monate später wurden auf offener Straße von Unbekannten erschossen. Der damalige Innenminister Alo Larajedh machte Islamisten von Ansar Scharia für die Tötungen verantwortlich, die zu gewaltsamen Protesten gegen Ennahda führten und Tunesien an den Rand eines Bürgerkrieges brachten.

Vor dem Krankenhaus in Bizerte kam es zwischen den dort postierten Polizeibeamten und mehreren zur Verteidigung von Ennahda-Vize Bhiri eingetroffenen Rechtsanwälten zu heftigen Wortwechseln. Das Gerücht, dass er in einem lebensbedrohlichen Zustand sei, wurde zwar von Mitarbeitern des Krankenhauses bestritten, doch es bestehe die Gefahr eines Herzinfarktes, hieß es. Parteiaktivisten bestätigen, dass er seit seiner Verhaftung jegliche Nahrung und Medikamente verweigere.

Die Aktivistengruppe »Bürger gegen den Putsch« machte Präsident Saied persönlich für den Gesundheitszustand des 63-Jährigen verantwortlich. Mehrere Mitglieder sind seit dem 23. Dezember in den Hungerstreik getreten, um gegen »die Alleinherrschaft« des Präsidenten zu protestieren.

Präsident Saied versucht dagegen, mit seiner Doppelstrategie das Land in eine andere Richtung zu lenken. Zwar geht er gegen die Ennahda vor, bringt aber zugleich seine Reformen voran, indem er einen landesweiten Bürgerdialog zur Erarbeitung einer neuen Verfassung gestartet hat. Bis zum 20. März können Tunesier Vorschläge und Ideen auf einer Online-Plattform einreichen. Eine von Saied ausgewählte Kommission wird dann einen Text ausarbeiten, über den am 25. Juli, genau ein Jahr nach der Machtergreifung, abgestimmt wird.

Am Abend, nachdem das Parlament kaltgestellt wurde, waren Anhänger wie Gegner Saieds auf die Straße geströmt. Es herrschte Ausnahmezustand Tunis. Auch in Hay Ethadamen, einem Armenviertel. Dort schlürft Mohamed in einem Café seit mehreren Stunden an seinem Kaffee und bespricht mit Freunden die bevorstehenden Wochen. Die anderen Jugendlichen in dem zu einem Videosalon umgebauten Café spielen FIFA-Fußball-WM. »Viele meiner Freunde sind nach Syrien gegangen«, erzählt Mohamed, der nicht mehr als seinen Vornamen preisgeben will. »Mittelsmänner, die mit Geld und Propaganda für den Kampf gegen Bashar al-Assad geworben haben, sehe ich jeden Tag auf der Straße«, sagt er. »Viele sind Parteifunktionäre von Ennahda oder stehen den Radikalen der Karama-Partei nahe, das weiß jeder hier.«

Die Beliebtheit von Ennahda ist zuletzt gesunken. Der Gelegenheitsarbeiter Mohamed nennt eine zunehmende Entfremdung zu den Bürgern in Hay Ethadamen als Grund dafür: »Während die Mehrheit meiner Nachbarn weiter arbeitslos ist und viele in Syrien gestorben sind, haben Parteimitglieder Jobs in der Verwaltung bekommen.« Familien müssen in Hay Ethadamen im Durchschnitt mit umgerechnet 300 Euro im Monat auskommen. Das ist wenig.

Mohamed hatte auch bei den Straßenschlachten im vergangenen Januar teilgenommen, die sich Tausende auf der Hauptstraße des Viertels mit der Polizei geliefert hatten. Anlass waren umstrittene Corona-Maßnahmen, die genau zehn Jahre nach dem Ende der Diktatur verkündet wurden. Noch immer liegen die leeren Hülsen von Gaskartuschen auf der Straße, mit denen die Beamten auch in Wohnungen schossen.

Zwar überwiegt in dem Viertel noch immer die Zustimmung für den Kurs des Präsidenten. Aber nach den Tiraden gegen die Ennahda sind auch einige in der Runde um Mohamed skeptisch. »Sollte Saied so wie die Regierung im letzten Jahr die Polizei gegen uns aufhetzen und seine Versprechen nicht umsetzen, dann sind wir bald wieder auf der Straße«, sagt Mohamed. Andere wollen nicht so lange nicht warten. Für den 14. Januar hat die Gruppe »Bürger gegen den Putsch« bereits Proteste gegen Kais Saied angekündigt.

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