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Sehenden Auges in die Katastrophe

Bei einer Analyse des Krieges am Hindukusch müssen die »Afghanistan Papers« aus der »Washington Post« eine Basis der Aufarbeitung sein

  • Dominik Wetzel
  • Lesedauer: 7 Min.
Kein Grund zum Jubel: Der US-Krieg in Afghanistan war ein Desaster.
Kein Grund zum Jubel: Der US-Krieg in Afghanistan war ein Desaster.

Dass fast 20 Jahre Krieg in Afghanistan gescheitert waren, stand spätestens im Dezember 2019 offenkundig in der »Washington Post« zu lesen. Was die damals veröffentlichten »Afghanistan Papers« offenbarten, steht in hartem Widerspruch zu dem, was Verantwortliche zwei Jahrzehnte lang über das Land und den Konflikt erzählten und hilft zu verstehen, wie es zu der chaotischen Niederlage vom September 2021 kam.

Dominik Wetzel

Dominik Wetzel, Jahrgang 1994, studierte Politikwissenschaft und öffentliches Recht und arbeitet als Journalist. Ihn beschäftigen unter anderem die Themen Krieg und Frieden, internationale Beziehungen und Klimakrise. Sein hier veröffentlichter Text ist die gekürzte Fassung eines Artikels, der in der Dezember-Ausgabe des Magazins »Ausdruck« mit Schwerpunkt Afghanistan enthalten ist. Das Magazin wird von der Informationsstelle Militarisierung in Tübingen herausgegeben.
 

Der Spezialgeneralinspektor für den Wiederaufbau Afghanistans, John Sopko, war 2008 vom US-Kongress damit beauftragt worden, eine Lageeinschätzung über Betrug und Verschwendung von US-Geldern im besetzten Afghanistan zu liefern. Zwischen 2014 und 2018 sammelte seine Behörde Hunderte Interviews und Dokumente, um einen deutlichen Lagebericht abgeben zu können, der dann von der »Washington Post« der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt wurde. Damit kam eine Reihe von Dokumenten ans Licht, die ein bis dahin unbekanntes Staatsversagen in Afghanistan sichtbar machten.

Als Generäle, Politiker und Präsidenten von Fortschritten und Siegen sprachen, wurden Niederlagen vertuscht. In den Papers berichtet der US-Oberst Bob Crowley, dass Informationen über diverse Ebenen nach oben geschönt wurden, um ein bestmögliches Bild präsentieren zu können. Dadurch seien die Untersuchungen zwar »total unzuverlässig« gedworden, bestätigten aber die Selbstwahrnehmung, dass man das Richtige tue. Das führte dazu, dass jeder US-Präsident, der während des Krieges im Amt war, erzählte, dass dieser Krieg bald gewonnen sei, obwohl die Lage jedes Jahr dramatischer wurde und mit den beispiellosen Bombardements in der Zeit Donald Trump einen zerstörerischen Höhepunkt fand.

Grenzenlose Bestechung

Aus den Dokumenten wird deutlich, wie sehr das besetzte Land an der ausufernden Korruption krankte. Schon als 2002/03 eine neue Verfassung Afghanistans ausgearbeitet wurde, gab die US-Regierung »nette Geschenke« an die Delegierten aus, die sich für Washingtons Haltung zu Menschenrechten und Frauenrechten einsetzten. Diese Praxis machte Schule. Doch dass unter diesen Umständen weder Menschenrechte noch Demokratie gedeihen konnten, beschreibt unter anderem US-Oberst Kolenda. Der erklärte, dass sich bis 2006 die Regierung um Präsident Hamid Karzai in eine »Kleptokratie« verwandelt hatte, die die meiste Zeit damit beschäftigt war, sich zu bereichern und an der Macht zu halten.

Die Wahlen von 2009 waren schließlich komplett gefälscht. Die »Washington Post« sprach von Wahlbetrug »epischen Ausmaßes«. So sollen eine Million Stimmen für Karzai, (ein Viertel aller Stimmen) illegal gewesen sein. Laut den Interviews war das Ausmaß an Korruption ein Ergebnis der Tatsache, dass man das Land in Hilfsgeldern und Rüstungsdeals ertränkt hatte. Es gab einen derartigen mit Steuerzahlern finanzierten Exzess, dass »die Möglichkeiten für Bestechung und Betrug fast grenzenlos« wurden.

Dementsprechend sind die Papers voll mit Berichten darüber, wie Steuergelder in Milliardenhöhe im Sumpf aus Betrug und Korruption versickert sind. Zum Beispiel waren für ein sogenanntes Commanders’ Emergency Response Programm des US-Kongresses 3,7 Milliarden Dollar bewilligt worden. Doch obwohl man sich alle Mühe gab, konnten nur 2,3 Milliarden Dollar ausgegeben werden. Und lediglich bei 890 Millionen wurden Details darüber bekannt, wohin das Geld tatsächlich floss. Ein anonymer Nato-Verantwortlicher nannte das Programm »ein dunkles Loch endlosen Geldes, für alles ohne Rechenschaft«.

Gert Berthold, ein forensischer Rechnungsprüfer, analysierte zwischen 2010 und 2012 etwa 3000 Verträge des Verteidigungsministeriums in Höhe von circa 106 Milliarden Dollar, um zu sehen, wer davon profitiert hatte. Das Ergebnis war: 40 Prozent gingen an transnationale Kriminalität und Aufständische wie die Taliban und das Haqqani-Netzwerk oder wurden für Regierungskorruption aufgewendet. Ehemalige Minister sagten dazu, die Zahlen seien unterbewertet.

Die am meisten gehasste Institution

Zu Beginn der Invasion in Afghanistan war das Ziel noch relativ klar, nach den Anschlägen von 1. September 2001 in den USA einen Gegenschlag gegen Al Quaida zu führen, um ähnliche Angriffe künftig zu verhindern. Doch der Fokus rückte schnell auf die Zerschlagung der an den Anschlägen unschuldigen Taliban-Regierung und auf den Aufbau einer neuen Regierung mit dazugehörigem Staatsapparat.

Bereits einen Monat nach der Invasion, im November 2001, begingen regierungstreue afghanische Einheiten an etwa 2000 Kriegsgefangenen das Massaker von Dasht-e-Leili. Truppen, die dem Warlord Abdul Rashed Dostum unterstanden, erschossen gefangene Talibankämpfer oder verschlossen sie in luftdichten Containern. Die Opfer wurden später im Wüstensand vergraben.

Dostum schrieb zum darauffolgenden Neujahr einen Brief an US-Präsident Bush. Beamte machten darauf Anmerkungen, die ihn als Krieger bezeichnen, mit denen die US-Truppen »sehr gut zusammenarbeiten«. Aus einem Interview mit einem unbekannten UN-Mitarbeiter aus dem Jahr 2015 geht außerdem hervor, dass Dostum, der zwischenzeitlich Vizepräsident Afghanistans war, von den USA und der internationalen Gemeinschaft pro Monat mehr als 100 000 Dollar erhielt, »um keinen Ärger zu machen«.

Die afghanischen Polizeieinheiten werden vor allem als schlecht trainiert, inkompetent und korrupt beschrieben. Prof. Thomas Johnson von der US-Navy sagte 2016, dass die meisten Afghanen die Polizei als Banditen wahrnähmen, und nennt sie »die am meisten gehasste Institution« in Afghanistan. Die Korruption und Erpressung, die von der Polizei ausging, führte dazu, dass viele nicht sagen konnten, wer schlimmer sei - die Taliban oder die afghanische Regierung. In einem Interview berichtet Shahmahmood Miakhel, ehemaliger Berater des afghanischen Innenministeriums, von einem Fall in Helmand, wo die örtliche Polizei die Bevölkerung nicht schützte, sondern vor allem damit beschäftigt war, mit dem Verkauf von Treibstoff und Waffen Geld zu verdienen. Die Bevölkerung blieb deswegen im Kampf zwischen korrupter Regierung und Taliban neutral und wartete ab, wer den Krieg gewinnen würde.

Drogen und Geldwäsche

Obwohl die USA über neun Milliarden Dollar für die Bekämpfung des Problems ausgegeben hatten, wuchs Afghanistan während der Besatzung zum Weltmarktführer des Opiumanbaus heran. Mit über 80 Prozent des weltweit produzierten Opiums versorgte Afghanistan in den letzten Jahren vor allem Europa, Iran und andere Teile Asiens zuverlässig mit Heroin und Morphium.

Das Scheitern bei dem Versuch, die Opiumproduktion in Afghanistan in den Griff zu bekommen oder überhaupt zu drosseln, war gigantisch. Im Frühjahr 2002 zahlten die Briten 700 Dollar pro Acre (ein Acre ist etwas weniger als ein halber Hektar), wenn die Bauern ihren Mohn verbrennen würden. Das 30 Millionen Dollar schwere Programm löste einen Rausch aus. Bauern bauten so viel Mohn an, wie sie konnten, verbrannten einen Teil für die britischen Gelder und verkauften den Rest am Markt. Andere ernteten das Opium, kurz bevor sie ihre Pflanzen zerstörten, und bekamen das Geld trotzdem. Das Phänomen nennt sich Kobra-Effekt und zeugt von totalem Staatsversagen. Ironischerweise war in den Jahren kurz vor der Invasion der Nato der Opiumanbau unter dem Taliban-Herrscher Mullah Omar fast zum Erliegen gekommen.

»Wir haben Straßen ins Nirgendwo gebaut … Mit dem, was wir ausgegeben haben, sollte Afghanistan aussehen wie Deutschland 1955«, wird ein Berater der US- Spezialkräfte in den Papers zitiert. In den 20 Jahren hat allein die US-Regierung etwa 2000 Milliarden Dollar nach Afghanistan gepumpt, knapp 300 Millionen Dollar pro Tag. 133 Milliarden gaben die US-Amerikaner fürs sogenannte »Nationbuilding« aus; auch inflationsbereinigt enorm viel im Vergleich zum 13 Milliarden teuren Marshall-Plan, mit dessen Hilfe Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut wurde.

Doch das ist nur Afghanistan und damit bloß die Spitze des Eisbergs. Das von der Brown Universität in Providence veröffentlichte »Costs of War«-Paper beschreibt, dass das US-Verteidigungsministerium seit Beginn des Afghanistan-Kriegs 2001 über 14 Billionen Dollar ausgab. Ungefähr ein Drittel bis die Hälfte dieser Summe floss an die Waffenindustrie. Mangels Transparenz bei den Ausgaben des Pentagon lassen sich diese Werte nicht genauer ermitteln, aber ein Viertel bis ein Drittel aller Pentagon-Verträge gingen dabei an nur fünf Waffenlieferanten: Lockheed Martin, Boeing, General Dynamics, Raytheon, and Northrop Grumman. Vier der letzten fünf US-Verteidigungsminister waren bei ebendiesen Waffenschmieden angestellt: James Mattis (Vorstandsmitglied bei General Dynamics), Patrick Shanahan (Manager bei Boeing), Mark Esper (Vorstand für Regierungsbeziehungen bei Raytheon) und der amtierende Lloyd Austin (Vorstandsmitglied bei Raytheon Technologies).

Der wohl wichtigste politische Gefangene der Nato-Staaten, der Enthüllungsjournalist Julian Assange, sagte 2011 in einem Interview, das Ziel des Afghanistan-Kriegs sei es, Gelder aus den Steuertöpfen der USA und Europa zu waschen und es an eine transnationale Sicherheitselite umzuverteilen. Das Ziel sei ein endloser Krieg, nicht ein erfolgreicher. Dieses Statement erklärt den Krieg bestimmt nicht vollumfassend, aber die Umverteilung hat auf jeden Fall stattgefunden.

Stephen Hadley, Sicherheitsberater der US-Regierung, sagte auch mit Blick auf den Irak-Krieg: »Wir haben kein Nachkriegs-Stabilisierungsmodell, das funktioniert … Ich habe keine Zuversicht, dass wir, falls wir es noch mal täten, es irgendwie besser machen würden.« Eben aus diesem Grund sollten bei der jetzt anstehenden Aufarbeitung des Krieges unter anderem die »Afghanistan Papers«, wie seinerzeit die »Pentagon Papers« zum Vietnam-Krieg, die Basis einer Auseinandersetzung mit der Politik der letzten 20 Jahren bilden.

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