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  • Handball-Europameister Schweden

Mit Wort und Tat zum großen Sieg

Angeführt von Jim Gottfridsson feiern Schwedens Handballer bei der EM den ersten Titel seit 20 Jahren

  • Michael Wilkening
  • Lesedauer: 4 Min.

Glenn Solberg drückte auf den Button, um seine Handballer ein letztes Mal zusammenzurufen. Im Finale der Europameisterschaft waren noch 30 Sekunden zu spielen, zwischen Spanien und Solbergs Schweden, die im Ballbesitz waren, stand es am Sonntagabend in Budapest 26:26. Ein Treffer für die Skandinavier würde die Entscheidung bedeuten - also ging es in der Auszeit darum, eine Strategie für den Angriff zu besprechen. Solberg allerdings schwieg. Der Trainer hörte zu, als der Anführer des Teams das Wort ergriff und seine Kollegen einschwor. Und so wird der erste große Titel der Schweden nach 20 Jahren auf immer eng mit dem Namen Jim Gottfridsson verbunden sein. Der Spielmacher der SG Flensburg-Handewitt war, wen man so will, während der zurückliegenden zweieinhalb Wochen eine Mischung aus Exekutive und Legislative.

»Jim ist unser Boss«, sagte Hampus Wanne. Der Linksaußen kennt Gottfridsson wie kaum ein anderer, denn er profitiert seit Jahren nicht nur in der schwedischen Mannschaft von den Ideen des Spielmachers, sondern auch in Flensburg. Der 28-jährige Wanne bewundert die Fähigkeiten des ein Jahr älteren Rückraumspielers und zweifelt dessen Status nicht an. Er weiß, dass der mitunter im Umgang mit seinen Mitspielern impulsive Gottfridsson die Chancen deutlich vergrößert, Siege und Titel feiern zu können. Während der Europameisterschaft in der Slowakei und Ungarn schwang sich Gottfridsson zum herausragenden Spieler auf. Vor dem Finale wurde er als wertvollster Spieler des Turniers ausgezeichnet. Im Endspiel gegen Spanien untermauerte er diesen Status.

Handball als Wintersport bei Olympia?

Was Weltverbandspräsident Hassan Moustafa schon vor zehn Jahren vorgeschlagen hatte, wurde am Rande der Europameisterschaft der Handballer wieder heiß diskutiert. Und zwar: Die Austragung der olympischen Handballturniere im Rahmen der Winterspiele.

Befürworter der Idee gibt es einige. »Wir sind ohnehin eine Herbst- und Wintersportart«, sagte Andreas Michelmann dem »Sportbuzzer«. Der Präsident des Deutschen Handballbundes verwies dabei auf die Tatsache, dass die großen Turniere wie Welt- und Europameisterschaften eh schon im Winter gespielt werden. »Eine gute Idee«, meint Nicolaj Jacobsen, Trainer des diesjährigen EM-Dritten Dänemark, »wenn man im Olympiajahr mit einem großen Turnier aussetzen würde.«

Grundlage der Diskussion ist, wie so oft in dieser Sportart, die Belastung der Spieler und Spielerinnen. Ein Beispiel: Johannes Golla bestritt innerhalb eines Jahres mehr als 70 Spiele. »Drei Turniere in zwölf Monaten waren extrem«, sagte der Kapitän des deutschen Teams nach der EM. Hinzu kamen die WM, Olympia, Länderspiele und nationale sowie internationale Partien mit seinem Klub SG-Flensburg Handewitt.

Handballer bewegen sich sowohl mental als auch körperlich im ungesunden Extrembereich. Um das Verletzungsrisiko zu minimieren, ist jede Entzerrung des engen Spielplans willkommen – auch der olympische Start im Winter. »Es ist eine Diskussion, die geführt werden muss«, fordert Golla von den zuständigen Verbänden. nd

Gottfridsson dominierte das Finale nicht durch seine drei Treffer, sondern mit der Tatsache, dass er allein bestimmte, wie die Schweden agierten. Im Rückraum der Skandinavier gibt es mit Felix Claar einen weiteren Mittelmann mit herausragender individueller Qualität, aber an den Status seines Kollegen reicht der Spielmacher des dänischen Topteams aus Aalborg nicht heran. Claar hörte deshalb zu, als Gottfridsson in der finalen Auszeit einen Angriffszug skizzierte, mit dem kurz darauf Albin Lagergren freispielte wurde. Der Linkshänder sprang Richtung Tor und wurde dabei gefoult. Den daraus resultierenden Siebenmeter verwandelte Niklas Ekberg zum Endstand von 27:26. Trainer Solberg war uneitel genug, um dem Chef im Trikot im wichtigsten Moment die Bühne zu überlassen. Mit Gottfridsson an der Spitze endete dann die zwei Jahrzehnte währende Durststrecke der Schweden, die in den 90er Jahren den Welthandball beherrscht hatten. Der Spielmacher steht deshalb fortan auch in einer Reihe mit Jahrhunderthandballer Markus Wislander und den anderen.

Das Finalwochenende in der ungarischen Hauptstadt hatte die besten Teams des Turniers zusammengeführt. Entgegen düsterer Prognosen spielte die Corona-Pandemie nur eine Nebenrolle, als der neue Europameister ausgespielt wurde. Nicht die Teams mit den wenigsten positiven Fällen, sondern die mit der größten Qualität hatten sich für das Halbfinale qualifiziert. Der sportliche Wert des Titels für die Schweden steht deshalb nicht in Frage. Viel mehr noch, sie hatten den Widrigkeiten erfolgreich getrotzt. Mit Torhüter Andreas Palicka und Siegtorschütze Ekberg waren zwischenzeitlich zwei wichtige Spieler positiv getestet worden und fehlten deshalb.

Die kampfstarken Skandinavier hatten sich gegen Rückschläge aufgelehnt und sich mehrfach gegen das drohende Turnieraus gewehrt. Beim letzten Vorrundenduell gegen Tschechien hätte eine Niederlage das Aus bedeutet, beim 27:27 wackelten die Schweden zwischenzeitlich, wendeten aber die Enttäuschung ab. Im letzten Duell der Hauptrunde erkämpften sie einen Sieg gegen Norwegen und drehten in den Schlussminuten eine schon verloren geglaubte Partie. Einen 19:23-Rückstand nach 55 Minuten verwandelten die Schweden in einen 24:23-Erfolg.

Jim Gottfridsson vereinte dabei Legislative und Exekutive, denn er entschied nicht nur, wie die Schweden in der Offensive agieren sollten, sondern setzte den Plan höchstselbst um. Selten hatte ein Europameister einen Akteur in seinen Reihen, der derart dominant im Denken und Handeln war. »Jim ist ein Instinkthandballer, er macht die Dinge automatisch richtig«, sagt Manager Dierk Schmäschke, der vor neun Jahren einen jungen Schweden nach Flensburg gelotst hat. Gottfridsson führte die SG seither unter anderem zu zwei Meisterschaften. Bei dieser problembeladenen Europameisterschaft gelang ihm mit dem Titelgewinn in Budapest nun der letzte noch fehlende Schritt hin zu einer Legende im handballverrückten Schweden. Das Geheimnis seiner Leistungen hatte der Spielmacher des neuen Europameisters ein paar Tage zuvor verraten: »Ich bin ein Handball-Nerd.«

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