Fortschritt im Ruin

Eine kleine Phänomenologie der Berliner Karl-Marx-Ausstellung

  • Gerhard Hanloser
  • Lesedauer: 4 Min.

Den Staat, ja die ganze Staatsmaschine wünschten Marx und Engels ins Museum der Altertümer, neben das Spinnrad und die bronzene Axt. Nun ist Marx längst selbst zum musealen Betrachtungsobjekt geworden. Nun ist im Berliner Deutschen Historischen Museum »Marx und der Kapitalismus« zu betrachten. Wie präsentiert man einen intellektuellen Sozialphilosophen, Kritiker und Revolutionär? Wie macht man Kapitalismus anschaulich?

Kuratorin Sabine Kritter ging ambitioniert ans Werk, verweist dabei jedoch etwas zu auf den zweiten großen Deutschen des 19. Jahrhunderts, Richard Wagner, der als Thema zusammen mit dem ihm zugeschriebenen »deutschen Gefühl« ab Anfang April im DHM zu sehen sein wird. Sehr viel Raum nimmt vielleicht deshalb »Judenemanzipation und Antisemitismus« als eine der sieben »Themeninseln« in der Marx-Ausstellung ein, wohl auch weil sich hier der fulminante Unterschied zwischen Wagner und Marx zeigt. Marx mochte antijüdische Metaphern für den Kapitalismus verwenden, er war allerdings ein leidenschaftlicher Streiter für die Judenemanzipation. Wie antisemitisch die Kunst von Wagner ist, ist umstritten, ganz und gar nicht umstritten ist, dass Wagner zu den unappetitlichsten Antisemiten des 19. Jahrhunderts zu zählen ist.

Diese Schwerpunktsetzung irritiert jedoch, von einer Studentengruppe vor dem Museum schwappt gleich zu Beginn meines Besuches die Frage herüber: »War jetzt Marx Antisemit?«. Ein Besucher schrieb verärgert ins Gästebuch: »Wie jede ostdt. Ausstellung mit einem Marx-Engels-Lenin-Zitat geschmückt werden musste, muss heute jede westdt. Ausstellung ihr Thema anscheinend in den ›Antisemitismus‹e inbetten. War das so wichtig für das Verständnis von Marx' Theorie und Tätigkeit? Ich meine nicht.«

Doch etwas vielseitiger ist die Ausstellung schon, sie ist aber natürlich von aktuellen Themen bestimmt. So wird auch auf Marx' Ambivalenzen in Hinblick auf den Kolonialismus eingegangen, dem dieser eine »zivilisatorischen Mission« attestierte, allerdings später nach intensiven Studien von diversen Gemeineigentumsformen auf die enorme Zerstörung und Durchdringung vorkapitalistischen Gesellschaftsstrukturen kritisch reflektierte.

Im Zentrum der Ausstellung steht ein Nachbau einer »Spinning Jenny«, der ersten industriellen Spinnmaschine, an der 12 Spinnerinnen das Material für einen Weber produzierten. An Mehrwertpumpen kann die Besucher*in sich kraftvoll und anschaulich über Profit- und Lohnverhältnisse informieren. Genauer gehen in einem präsentierten Gespräch der Berliner Marx-Biograph Michael Heinrich und der Soziologe Dirk Baecker dem Gesellschaftstheoretiker und -kritiker Marx nach, der die kapitalistische Produktionsweise nach ihrem ideellen Durchschnitt darstellte, wie Heinrich, in der Terminologie weit präziser als Baecker, betont. Anders als letzterer betont Heinrich auch die innere Wachstumsdynamik des Kapitalismus, die eine wirklich ökologische Wende ausschließe.

Dem folgend findet sich auch eine Informationstafel, die Marx als ersten Ökologisten ausweist, nebst Pinguin aus der Berliner Naturkundesammlung. Mit dessen Kot als Düngemittel hatte sich der Universalgelehrte Marx vertraut gemacht, kam im Ergebnis seiner Studien zu dem Ergebnis, dass jeder Fortschritt in der Steigerung von Bodenfruchtbarkeit unter kapitalistischen Verhältnissen ein »Fortschritt im Ruin der dauernden Quellen dieser Fruchtbarkeit« darstellt. Ein anderes Tier ist auch am Start: ein ausgestopftes Schaf repräsentiert das Einhegen von Ackerland, das Bauerlegen, die ursprüngliche Akkumulation.

Dies markiert im »Kapital« von Marx ja den Startpunkt des Kapitalismus, ein Prozess, in dessen Verlauf voller Gewalt Bauern zu Lohnarbeitern gemacht und Gemeineigentum in Privateigentum umgewandelt wurden. Der Klassenkampf kommt mit dem bekannten Monumentalbild »Der Streik« von Robert Koehler nicht zu kurz, ein Trinkfässchen der Aufständischen der Pariser Kommune, der »endlich entdeckten politischen Form«, ist zu sehen, neben einigen roten Fahnen der frühen Arbeitervereine und Sitzungs- und Anwesenheitsprotokollen der Internationalen Arbeiter Assoziation.

Zu kurz kommt leider der Konflikt zwischen Marx und Bakunin, also zwischen den etatistischen Sozialismusvorstellungen von Marx und und Engels, die eine Phase der »Diktatur des Proletariats« als unumgänglich erachteten auf der einen und eines antistaatlichen Kommunismus auf der anderen Seite, der sogleich die freie Assoziation anpeilte. Ob die 33 Prozent, die auf die Frage »War Karl Marx ein Wegbereiter von Diktatur und Gewalt im 20. Jahrhundert?« »weiß nicht/unentschieden« antworteten, in dieser Hinsicht eine wertvolle Aufklärung verpasst haben, mag dahingestellt sein.

Dafür hätte die Ausstellung zur Marxismus-Ausstellung werden müssen und die Marxismus-Adaptionen in der Sowjetunion, China und anderen Ländern und Bewegungen diskutieren müssen. Ein schier unmögliches Unterfangen. Die Kuratorin und ihr wissenschaftlicher Berater, der Historiker Jürgen Herres, der bis Februar 2021 Mitarbeiter der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, war, haben einen interessanten und aktuellen Zugang zu Marx eröffnet, den Kritiker der kapitalistischen Produktionsweise in seinen Ambivalenzen gezeigt und den Textproduzenten als Zeitgenossen präsentiert, der nach wie vor aktuelle Fragen beackerte.

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