Kein Unglück, sondern Gewalt im Verkehr

40 Menschen wurden 2021 auf Berlins Straßen getötet - meist von Autofahrenden

  • Louisa Theresa Braun
  • Lesedauer: 3 Min.

Auf einem Zebrastreifen sei ihre kleine Tochter, die mit einem Laufrad unterwegs war, von einem Van angefahren worden. »Sie hatte ein geprelltes Knie und eine geprellte Hüfte. Dank dicker Kleidung und dem Helm ist nichts weiter passiert. Sie hat jetzt Angst, über die Straße zu gehen und sich auf Parkplätzen zu bewegen«, berichtet Nise auf Twitter. Insgesamt 604 Kinder sind 2021 laut Bilanz zur Verkehrssicherheitslage der Berliner Polizei im Hauptstadtverkehr verunglückt, neun weniger als im Vorjahr und sogar 50 weniger als 2019.

Allerdings sind die vergangenen beiden Jahre nicht mit denen vor Beginn der Corona-Pandemie vergleichbar, da sich die Tendenz zu verringertem Verkehr durch Homeoffice, Homeschooling oder Quarantäne laut Polizei weiter fortsetzte. Daher sank die Zahl der Unfälle von 2019 auf 2020 um 14 Prozent und blieb im zweiten Coronajahr mit 127 626 Unfällen nahezu konstant. »Erfreulich« sei demnach, dass die Anzahl der verunglückten Personen 2021 um fast 4 Prozent auf 14 782 gesunken ist und sich die der Verkehrstoten von 50 auf 40 reduziert hat.

Weniger positiv sieht das die Initiative Volksentscheid Berlin autofrei, die statt von »Unglücken« lieber von »Verkehrsgewalt« spricht, da dieser Begriff die tödliche, von Autos, Lkw oder Bussen ausgehende Gefahr besser beschreibe. »Das Auto dominiert nicht nur den Straßenraum, sondern auch die Sprache. Dadurch kann es zu einer Normalisierung und Verharmlosung von Verkehrsgewalt kommen«, kritisiert die Initiative. Viel zu oft sei von »Zusammenstößen« oder vom »Erfassen« von Fußgänger*innen die Rede, wenn diese von Autofahrenden getötet wurden.

Tatsächlich wurden laut Verkehrssicherheitsbilanz 66,67 Prozent aller Unfälle 2021 in Berlin von Pkw, 13,61 Prozent von Lkw, nur 3,71 Prozent von Radfahrenden und 0,9 Prozent von Fußgänger*innen verursacht. Bei den Opfern dreht sich das Verhältnis beinahe um: 14 waren zu Fuß unterwegs, zehn mit dem Fahrrad, neun saßen im Auto, fünf auf Krafträdern und zwei im Lkw. Damit ist die Hauptstadt noch 40 Tote von der »Vision Zero« entfernt, also dem Ziel, dass niemand mehr im Straßenverkehr getötet wird. Der Berliner Senat habe dahingehend »erneut versagt«, sagt Lisa Buchmann von Volksentscheid Berlin autofrei.

Verkehrssenatorin Bettina Jarasch (Grüne) hatte die »Vision Zero« im Verkehrsausschuss des Abgeordnetenhauses in der vergangenen Woche für nicht schnell umsetzbar erklärt und nannte die Entschärfung von Unfallschwerpunkten auf großen Kreuzungen kompliziert. Insgesamt 1900 solcher Kreuzungen gibt es in Berlin, von denen jedes Jahr 30 entschärft werden sollen. Volksentscheid Berlin autofrei nennt das langsame Tempo »gefährlichen Fatalismus«, der Menschenleben aufs Spiel setze.

Um vor allem Schutzbedürftige wie Kinder, ältere Menschen, Gehörlose oder Personen mit Sehschwäche vor Verkehrsgewalt zu bewahren, fordert die Initiative vom Senat ein entschlosseneres und zügiges Handeln. »Ein erster Schritt ist, Sichtachsen von stehenden Autos zu befreien«, sagt Sprecherin Marie Wagner.

Die Polizei Berlin habe im vergangenen Jahr einen Schwerpunkt auf die Überwachung des ruhenden Verkehrs gelegt, also auf verbotswidriges Halten und Parken und insgesamt 81 169 Fahrzeuge abgeschleppt, um für mehr Radverkehrssicherheit zu sorgen. Die mit Abstand meisten Unfälle (2021 insgesamt 10 158) werden jedoch seit Jahren durch Abbiegefehler verursacht. »Sichere Straßen bekommen wir nur, wenn der Autoverkehr drastisch reduziert wird«, schlussfolgert Lisa Buchmann von Berlin autofrei.

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