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  • Richard Hamilton/Pop-Art

Beschleunigte Wahrnehmung

Vor 100 Jahren wurde der Künstler Richard Hamilton geboren, den viele für den Vater der Pop-Art halten

  • Stefan Ripplinger
  • Lesedauer: 5 Min.
Die britische Pop-Art von Richard Hamilton unterscheidet sich von der US-amerikanischen durch ihren Sarkasmus.
Die britische Pop-Art von Richard Hamilton unterscheidet sich von der US-amerikanischen durch ihren Sarkasmus.

Bis vor ungefähr 20 Jahren verfügten die meisten Haushalte der westlichen Welt über ein Werk von Richard Hamilton. Denn fast jeder besaß das von ihm gestaltete »Weiße Album« der Beatles, allerdings meistens nicht mehr in der Originalaufmachung. Diese sah vor, dass jedes Album wie eine edle Auflagenarbeit eine Nummer aufgestempelt bekam. Im Jahr 1971 gaben die Plattenwerke die Stempelung auf, etwa drei Millionen nummerierte Alben sollen verkauft worden sein.

Die Idee, ein relativ billiges Massenprodukt zu behandeln, als wäre es das Fetischobjekt einer kleinen kaufkräftigen Sammlerschicht, gehört nach wie vor zu den besten Hamiltons, eines Mannes, dem stets der Schalk im Nacken saß. Um 1968, als er den Beatles behilflich war, galt er als der Begründer der britischen Pop-Art, die sich (man denke an R. B. Kitaj oder Pauline Boty) von der US-amerikanischen durch ihren Sarkasmus unterscheidet. Als Gründungsakt der britischen Pop-Art sah man Hamiltons Collage »Was ist es nur, das das heutige Heim so anders, so anziehend macht?« (1956) an. Sein Schalk ist auf dem Bild sofort zu erkennen: In der Mitte ein sich dicke tuender Bodybuilder, der für den biblischen Adam stehen soll, Eva reckt ihren Atombusen, umgeben sind die beiden von den Segnungen der technischen Zivilisation - Auto, Fernseher, Tonbandgerät, Telefon, Comics, Zeitung, Kinoplakat, Staubsauger, Konservendose und der ersten Farbaufnahme des Planeten Erde.

So bissig uns dieses Werk erscheint, war Satire keineswegs die Hauptabsicht der legendären Ausstellung »This Is Tomorrow« (Whitechapel Gallery, London, 1956), für die die Collage entstanden ist. Wie der 2011 verstorbene Hamilton in seinen leider nicht abgeschlossenen Memoiren (»Introspective«, 2019) schreibt, wurde zwar oft anerkannt, dass seine Künstlergruppe »mit Nachdruck und Hingabe Alltagskultur darstellte, doch fand zu wenig Beachtung, dass sie zugleich die Fähigkeit, die Außenwelt sinnlich wahrzunehmen, untersucht hat«. Aus diesem Grund hat er stets die Behauptung, er habe die Pop-Art erfunden, zurückgewiesen. Der verschlungene Pfad, der ihn in den 60er Jahren bei den Beatles ankommen ließ, führte an Grafik, moderner Literatur und Marcel Duchamp vorbei und folgte stets den Leitsternen Wissenschaft und Technik.

Hamilton, der schon als 12-Jähriger Zeichenkurse an der Abendschule nahm, verfügte sowohl über eine künstlerische Ausbildung an der Royal Academy als auch über eine als technischer Zeichner. Nach dem Krieg trat er als Illustrator von Büchern hervor, insbesondere des »Ulysses« von James Joyce. Eine besonders schöne Zeichnung - sie zeigt den Protagonisten des »Ulysses«, Leopold Bloom, von oben in seiner Badewanne - erregte Anstoß bei dem Joyce-Biografen Richard Ellmann. Dieser Bloom sei ja beschnitten, rügte Ellmann. »Selbstverständlich«, erwiderte Hamilton, der wusste, dass Bloom ein Jude sein soll. Doch Ellmann konnte mit einer unscheinbaren Stelle aus der »Nausikaa«-Episode des »Ulysses«, in der es heißt, Bloom habe seine Vorhaut zurückgeschoben, nachweisen, dass er eine hatte. Sei es.

Für Hamilton war ohnehin die der »Nausikaa« folgende Episode - »Die Rinder des Sonnengotts« - wesentlich wichtiger. Denn darin vollführt Joyce das Kunststückchen, eine Geschichte von betrunkenen Medizinstudenten in einem Dutzend unterschiedlicher historischer Sprachstile vom Altenglischen bis zum Cockney zu erzählen. Hamilton tat es ihm gleich, indem er entsprechend viele Stile der Kunst anwandte, und fühlte sich fortan nicht mehr dazu verpflichtet, einen Personalstil anzustreben (was allerdings nicht verhindert, dass man den späten, fotografiebasierten Hamilton leicht als solchen erkennt).

Optische Täuschung, beschleunigte Wahrnehmung, technische Evolution - mit solchen Themen beschäftigte sich der reife Künstler. Auch, dass er in den 50ern und 60ern bewundernswert exakte Repliken von Werken Duchamps anfertigen sollte, gehört hierher. Wie Technisierung unsere Wahrnehmung verändert, hat Duchamp in seinem »Akt, eine Treppe herabsteigend« (1912), in seinen »Rotoreliefs« (1935) und insbesondere in seinem »Großen Glas« (1915-1923) erkundet. So gelangte also Hamilton in die genannte Ausstellung in der Whitechapel Gallery und geriet unter Pop-Verdacht, obwohl er zur modernen Zivilisation, anders als die Pop-Künstlerinnen und -Künstler meistens, kein Verhältnis der Bewunderung oder gar Verehrung, sondern eines der Neugier einnahm. Er zeigte überdies ein feines Gespür dafür, welche groteske Formen die Produktivkräfte ausprägen können.

Überhaupt interessierte sich Hamilton mehr für die Spitzenprodukte der Technik und nicht für Tomatensuppendosen. Das belegen Stillleben aus dem Jahr 1965, in denen er High-End-Apparate der deutschen Firma Braun auftreten lässt, aber deren Signet zu »Brown« abändert. Das Objekt »Der Kritiker lacht« (1968) zeigt eine elektrische Zahnbürste der Firma Braun mit aufgestecktem Gebiss (die, der Marke entsprechend, braunen Zähne stellte der Sammler und Zahnarzt Hanns Sohm zur Verfügung). Experimente mit Apparaturen, zuletzt auch mit Computern, ziehen sich durchs gesamte Werk von Hamilton. Auffällig ist, dass er im Alter politischer wurde. »Der Bürger« (1982/83) zeigt den IRA-Kämpfer Hugh Rooney während des »Schmutzigen Protests« 1980 vor mit Exkrementen beschmierten Zellenwänden. Die Installation »Behandlungsraum« aus dem Jahr 1983 führt in ein Röntgenzimmer. Auf dem Monitor ist Margaret Thatcher zu sehen, wie sie im selben Jahr ihre Rede über die Reform des Gesundheitswesens hält.

Auch wenn er mit dem genialischen Berserker Dieter Roth eng befreundet war, ähnelt das Werk von Richard Hamilton mehr dem trockenen, verspielten, aber immer kühlen und eleganten Humor von Duchamp. Er war einer seiner begabtesten Schüler.

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