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Melancholie liegt über der Stadt

Die Faszination des Niedergangs: Das Ostberlin und die DDR der 80er Jahre, fotografiert von Günter Steffen und Ulrich Wüst

Für ausgewachsene Melancholiker muss das Ostberlin der 80er Jahre, und hier besonders die Altbauquartiere in Prenzlauer Berg oder in Mitte, Stein gewordener Ausdruck ihres Lebensgefühls gewesen sein. Dieser Gedanke liegt nahe, wenn man mit Günter Steffen auf »Die Hauptstadt«, so der Titel seines Bildbands, blickt. Es kann kein Zufall sein, dass sehr viele der in den letzten Jahren erschienenen retrospektiven Fotobücher über die östliche Halbstadt diesen elegischen Grundton haben, der sich nur zum Teil durch das grobkörnige Schwarz-Weiß der Filme aus volkseigener Produktion erklären lässt.

Glich das Leben in den heruntergekommenen Mietskasernen, die heute ja oft als subkulturelles Paradies verklärt werden, tatsächlich dem Treiben der Protagonisten in Aki Kaurismäkis Film »Das Leben der Bohème«? In diesem schlagen sich drei Künstler im Paris des 19. Jahrhunderts durchs Leben und führen ein recht trostloses Dasein. Den poetischen Realismus des französischen Vorkriegsfilms, dem Kaurismäki ein Denkmal setzte, findet der Betrachter in den Fotografien von verlassenen Ostberliner Straßen, Häusern und Hinterhöfen tatsächlich wieder - die düstere Alltagswelt und die pessimistische Grundhaltung scheinen dieselbe. Selbst für DDR-Verhältnisse, wo es es ja oft so schien, als sei in den Dörfern und Städten die Zeit stehen geblieben und die Nachkriegszeit konserviert, strahlen Steffens Abbilder des urbanen Raums eine rätselhafte Entsagung aus, verstärkt durch die Abwesenheit der Menschen. Ein Hauch Existenzialismus weht durch die Seiten.

Auch Ulrich Wüsts Stadtbilder erheben keinen Anspruch auf Objektivität; vielmehr spiegelt sich in ihnen das Leiden des Ästheten und Stadtplaners angesichts der ästhetischen und stadtplanerischen Zumutungen, die die DDR zu bieten hatte.
Auch Ulrich Wüsts Stadtbilder erheben keinen Anspruch auf Objektivität; vielmehr spiegelt sich in ihnen das Leiden des Ästheten und Stadtplaners angesichts der ästhetischen und stadtplanerischen Zumutungen, die die DDR zu bieten hatte.

Natürlich sind Steffens Fotografien eine Konstruktion, selbst der Übelmeinendste wird nicht annehmen, hier ein realistisches Abbild sozialistischer Urbanität zu finden. Der Legende nach besorgte sich der Fotograf irgendwann Anfang der 80er ein japanisches Objektiv, in der Hoffnung auf einen qualitativen Quantensprung seiner Bilder. Doch das Gegenteil trat ein: Irgendeine Unkompatibilität verlieh den mit diesem Objektiv entstandenen Aufnahmen einen diffusen Schleier, als wären sie mit einer Camera Obscura gemacht worden. Was zunächst nach einem Fehlkauf aussah, verhalf den Fotografien bald zu einer besonderen Qualität und verstärkte noch deren melancholischen Grundton. Entstanden sind dadurch Bilder, die wie im Nebel liegen, sich auflösen im Diffusen und wirken wie jenseits von Zeit und Raum.

Begleitet werden sie im Bildband von Textfragmenten aus dem dystopischen Roman »Wir« des sowjetrussischen Schriftstellers Jewgeni Samjatin. In dem 1920 geschriebenen, aber erst 1988 vollständig in der Sowjetunion veröffentlichten Buch beschrieb er eine fiktive Gesellschaft, in der jegliche Individualität unterdrückt wird. Die Parallelen zur ostdeutschen Realität waren für Herausgeber und Samjatin-Liebhaber Günter Jeschonnek offenkundig genug, um Steffens Bilder von diesem durchaus sperrigen Text begleiten zu lassen.

So sehr Steffens Zyklus lediglich eine Idee von Stadt erzeugt, die keinen Anspruch auf Wahrhaftigkeit erhebt, ist er doch ein Zeitdokument, das die Endzeitstimmung und die innere wie äußere Stagnation im vergehenden Staatswesen gut widerspiegelt. Selbst Zeitzeugen können sich kaum noch erinnern, wie sehr die verfallende Bausubstanz und der Stillstand die Stadt und ein Lebensgefühl prägten. Noch Ende der 80er Jahre konnte man überall im Stadtbild die Spuren des Zweiten Weltkriegs entdecken; Einschusslöcher an Fassaden und Bombenlücken zwischen den Häusern waren allgegenwärtig. Nach Wende und über 30 Jahren des neoliberalen Stadtumbaus, permanenten Sanierens, Verdrängens, Niederreißens und Herrichtens der Stadt für eine wurzellose, globalisierte und zahlungskräftige Klientel, wirken Steffens Fotografien wie ein Märchen aus uralten Zeiten.

Günter Steffen, Jahrgang 1941 und in Berlin geboren, war Physiker, ehe er sich der Fotografie zuwandte und Ende der 70er Jahre eine der raren Arbeitserlaubnisse als freier Fotograf erhielt. Von seinem Ladenatelier aus, in der Almstadtstraße im alten Scheunenviertel nahe dem Alexanderplatz und unweit vom Prenzlauer Berg, hatte er sein Sujet praktisch direkt vor der Nase. Die meisten Motive fand er auf frühmorgendlichen Spaziergängen durch die desolate Ostberliner Mitte, was der Menschenleere auf den Bildern gewiss förderlich war.

Ulrich Wüsts Aktionsradius war da ungleich größer. Für seine Werkgruppe »Stadtbilder«, die ebenfalls in den 80er Jahren entstand und erst vor Kurzem als Buch fast zeitgleich mit Steffens »Die Hauptstadt« bei Hartmann Books erschienen ist, reiste der Fotograf kreuz und quer durch die DDR.

Beiden Arbeiten gemein ist neben der Zeitgenossenschaft und den ähnlichen Sujets die essayistische Herangehensweise, die keinem konkreten Plan folgte. Ihre Bilder entstanden im Vorbeigehen, neben der eigentlichen Arbeit. Wüst hatte in der Entstehungszeit der »Stadtbilder« die fast perfekte Nische in der Nischengesellschaft DDR gefunden. Viele unangepasste Freigeister suchten sich Jobs am Rand, wurden Friedhofsgärtner, Filmvorführer oder arbeiteten im kirchlichen Bereich, um der Form zu genügen und unter dem Radar der stets wachen Staatsmacht zu bleiben.

Eine geregelte Tätigkeit war den DDR-Behörden Ausweis gelungenen Einfügens in die Norm; konnte man diese vorweisen, schauten sie nicht mehr so genau hin. Für Wüst, der ursprünglich Stadtplanung studiert hatte, bald jedoch voll Grausen vor den normativen Zwängen dieses Berufs und dem eingeforderten Opportunismus floh, wurde die Zeitschrift »Farbe und Raum« der stille Winkel, in dem er die Zeiten überdauerte, bis auch er 1983 Freiberufler werden durfte. Ursprünglich eine Fachzeitschrift für das Handwerk, erweiterte sie ihr Themenspektrum beträchtlich, nachdem der Architekt Wolfgang Kil die Redaktion übernommen hatte.

Spät-DDR: Melancholie liegt über der Stadt

Dieser hatte, ähnlich wie Wüst, seine Arbeit beim Berliner Wohnungsbaukombinat hingeworfen und war auf der Suche nach einem Ort zum Überwintern. Er stellte den befreundeten Fotografen kurzerhand als Bildredakteur ein. Als solcher konnte Wüst sich praktischerweise selbst die Aufträge erteilen, die ihn durch die ganze Republik führten. Die Stadtbilder waren ein Nebenprodukt seiner Auftragsarbeiten, bis das wachsende Konvolut an Bildern und deren Serialität sich selbst als Thema konstituierten.

Wüsts Sicht auf die urbanen Landschaften ist ungleich dokumentarischer als der von Günter Steffen, heimeliger allerdings nicht. Seine Bilder sind nüchterne Bilanz einer im Mittelmäßigen stecken gebliebenen und anspruchslosen Stadt- und Raumplanung, deren einzige Maßgabe seit den 60er Jahren nurmehr Zweckmäßigkeit war. Auch mit dem Abstand von über 30 Jahren seit ihrem Verschwinden lässt sich vielen Hinterlassenschaften der DDR in Design und Architektur nur schwer etwas abgewinnen.

Freilich kann der Interessierte heute im Museums-Shop des Humboldt-Forums eine stylische Deckenleuchte aus dem Palast der Republik für knapp 4000 Euro erwerben, aber solche architektonischen und Design- Schlaglichter wie der Palast können nicht über die standardisierte Durchschnittlichkeit und die ökonomischen Zwänge des sozialistischen Städtebaus hinwegtäuschen. Prägend quer durch die Republik waren baulicher Verfall, die nur mühsam kaschierten Spuren des Krieges sowie der von der Obrigkeit verordnete plüschige Kleinbürgergeschmack in Architektur und Design.

Die stadtästhetischen Verheerungen, die die Erfindung des Plattenbaus bedeutete, sowie die Verwüstungen durch eine Raumplanung, die an den Peripherien billigst errichtete Trabantenstädte entstehen ließ (während der Stadtkern verfiel), sind allerdings kein Alleinstellungsmerkmal der DDR; man kann sie heute noch quer durch den gesamten ehemaligen Ostblock bewundern. Architektonische, ästhetische oder stadtplanerische Ideen, die die Zeitläufte überdauert haben, hat die DDR seit den 60er Jahren und mit der Abkehr von der Bauhaus-Moderne kaum mehr hervorgebracht; die Plattenbau-Vorstädte sind heute ungeliebte Stiefkinder der städtischen Verwaltungen und/oder soziale Brennpunkte.

Im Zeitraum der Entstehung der »Stadtbilder«, 1979 bis 1985, war der Vorrat an eventuell noch vorhandenen Resten von Illusion hinsichtlich einer sozialistischen Alternative zum westlichen profitgetriebenen Wohnungs- und Städtebau ganz gewiss aufgebraucht. Von der hehren Idee waren nur die lächerlich niedrigen Mieten geblieben und die Tatsache, dass es keinen Wohnungsmarkt im kapitalistischen Sinne gab - was aber, man muss es leider sagen, zum allgegenwärtigen Verfall eher noch beitrug.

Spät-DDR: Melancholie liegt über der Stadt

In diesem Umfeld fand Wüst seine Motive, von denen eine durchaus widerständige Melancholie ausgeht, worin sie Steffens Berlin-Bildern gleichen. Wo etwas nicht stimmte in der Stadt-Inszenierung, neue Architekturen sich an den alten rieben, diese am Ende überformten und einen Mischmasch an Stilen und letztlich Banalitäten hervorgebracht hatten - dort drückte Wüst auf den Auslöser. Dass er dann doch eine Ästhetik im Unästhetischen zu finden vermochte, macht die fotografische Qualität der Bilder aus.

Wenn viele seiner Arrangements fast wie künstlerische Interventionen wirken, hat das damit zu tun, wie er den Raum um die Architekturen herum mit ins Motiv einbezieht, was allerdings (auch) einen ziemlich banalen Grund hatte: Die Bilder entstanden allesamt mit einer Kleinbildkamera und einem 50-mm-Normalobjektiv, und um stürzende Linien zu vermeiden, musste Wüst die Kamera absolut gerade halten, was letztlich zu einer gewissen Überrepräsentation des Vordergrunds im Bild führte, die in der Konsequenz durchaus ihren Reiz hat.

Bei alldem merkt man den Bildern stets den inneren Furor des ehemaligen Stadtplaners an, der mit einer gewissen Faszination auf den Niedergang des öffentlichen Raumes und die Ästhetik des »geballten Mittelmaßes« (Wüst) schaut. Er selbst bezeichnete dies im Interview als »aggressive Anteilnahme«, voller zwielichtiger Erinnerungen und Sarkasmen.

Es scheint erstaunlich, dass Wüst die »Stadtbilder« bereits 1986 in einer Ostberliner kommunalen Galerie ausstellen konnte und diesbezüglich kein Murren des Zensors überliefert ist, anders als bei Helga Paris. Deren ähnlich gelagerte Arbeit »Häuser und Gesichter. Halle 1983-85«, in der sie den Verfall der Altbausubstanz dokumentierte, fand nicht so viel Gnade; ihre ebenfalls 1986 geplante Ausstellung wurde im letzten Moment untersagt.

Spät-DDR: Melancholie liegt über der Stadt

Mag sein, dass im nüchternen Blick Wüsts das Subversive mehr unter der Oberfläche verborgen lag und sich schwerer erschloss als die unmittelbar emotionale Erregung hervorrufenden requiemhaften Bildern von Helga Paris. Heute sind beide auf jeden Fall aus dem Kanon der DDR-Fotografie nicht mehr wegzudenken, während Günter Steffens Werk, bisher nur wenigen Eingeweihten bekannt, noch der Entdeckung harrt.

Günter Steffen: Die Hauptstadt. Mit Texten von Jewgenij Samjatin. Hartmann Books,160 S., geb., 38 €;

Ulrich Wüst: Stadtbilder 1979-1985. Hartmann Books, 160 S., geb., 40 €

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