Kornkammer und verlängerte Werkbank

Die Ukraine versorgte vor dem Angriff Russlands die Welt nicht allein mit Getreide

  • Hermannus Pfeiffer
  • Lesedauer: 4 Min.
Bereits zu Sowjet-Zeiten war die Ukraine die Kornkammer der Sowjetunion.
Bereits zu Sowjet-Zeiten war die Ukraine die Kornkammer der Sowjetunion.

Ein großer Teil der Welt ernährt sich von ukrainischen Agrarprodukten. Schon die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik galt einmal als Kornkammer der Sowjetunion. Von der außerordentlichen Fruchtbarkeit ihrer Schwarzerde-Böden profitiert die Wirtschaft bis heute. Als fünftgrößter Exporteur von Weizen - der größte ist inzwischen Russland - werden vor allem der Nahe Osten sowie ärmere Länder wie Ägypten, Jemen oder der Libanon beliefert. Das Land exportiert zudem massenhaft Sonnenblumenöl, Mais und Hühnereier, auch in die EU. Damit ist es nun vorbei, seit die Schwarzmeerhäfen, darunter der Containerterminal der Hamburger HHLA, im Zuge des russischen Angriffs auf das Land vor einer Woche geschlossen wurden. Über diese Häfen lief bisher der Großteil der ukrainischen Exporte.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Der Erfolg der ausfuhrorientierten Agrarindustrie hängt mit deren Industrialisierung zusammen. Ähnlich wie in Ostdeutschland gingen die einst kollektiven Betriebe in private Hände über. Allerdings sind die Dimensionen in der Ukraine andere. In Deutschland besitzen die mit Abstand größten Flächen Genossenschaften in Mecklenburg-Vorpommern, mit durchschnittlich knapp 1500 Hektar. Dagegen beackert allein die IMC Agrarholding, mit ihrem auch in Deutschland gut vernetzten Vorstandsvorsitzenden Alex Lissitsa, im Nordwesten der Ukraine rund 125 000 Hektar.

»In den Wirren der 1990er Jahre entstand eine kleine Schicht von Oligarchen, die große Teile der Wirtschaft dominieren und starken Einfluss auf die Politik ausüben«, schreibt der Wirtschaftsexperte Hans Peter Pöhlmann von Germany Trade and Invest (GTAI), der Außenwirtschaftsagentur des Bundeswirtschaftsministeriums, in seiner Ukraine-Analyse. So sind Eisen und Stahl nach Nahrungsmitteln das wichtigste Exportgut der Ukraine. Das riesige Land verfügt zudem über enorme Bodenschätze, von Eisenerz, Nickel und Lithium bis hin zu Seltenen Erden. Auch ausgedehnte, noch unerschlossene Schiefergas-Vorkommen schlummern unter der Erde. Damit könnte das Land vom Energie-Importeur, der abhängig von Russland ist, zum Exporteur werden.

Vor dem Hintergrund früherer historischer Tragödien und schwerer Wirtschaftskrisen seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion sei das Wirtschaftsleben häufig immer noch kurzfristig orientiert, bemängelt Pöhlmann: »Korruption, Schattenwirtschaft und mangelnder Schutz von Eigentumsrechten gelten als problematisch.« Das Vertrauen in staatliche Institutionen ist vergleichsweise gering, die Bedeutung von Netzwerken und persönlichen Loyalitäten sei daher wesentlich größer als in Deutschland.

Immerhin hat sich das Geschäftsklima laut GTAI in den vergangenen Jahren verbessert. Neben den oligarchischen Industriekonzernen gebe es eine wachsende Zahl junger Unternehmer, die einen modernen, westlich geprägten Managementstil leben. Dies gelte für die blühende IT- und Start-up-Szene, aber auch für die Arbeit in internationalen Firmen. Im Vergleich zur deutschen Geschäftskultur seien »Multitasking und Improvisation« weiter verbreitet.

Russland war seit der Unabhängigkeit 1991 das wichtigste Exportland. Heute sind es China und Polen. Doch die ukrainische Wirtschaft hatte vor dem russischen Einmarsch noch nicht wieder das Vor-Corona-Niveau erreicht. Als Gründe für die langsame Erholung werden die geringe Impfquote, der starke Anstieg der Gaspreise und globale Lieferkettenprobleme genannt.

Mit einer Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung von rund 4000 Euro erzielte die Ukraine vor dem Krieg nur ein Drittel derjenigen von Polen. Die Erwerbslosigkeit ist hoch. Viele Ukrainer arbeiten als Lastwagenfahrer, Erntehelfer und Seeleute in der EU. Für deutsche Firmen wie Beiersdorf (»Nivea«) oder Siemens sind die 44 Millionen Ukrainer lediglich ein Absatzmarkt, für andere die verlängerte Werkbank. So hat der VW-Konzern in seinen Werken in Dresden und Zwickau Kurzarbeit angeordnet, weil Kabelbäume des Nürnberger Zulieferers Leonie fehlen. In den westukrainischen Leonie-Fabriken produzieren 7000 Mitarbeiter Bordnetzsysteme auch für BMW.

In den vergangenen Jahren wurde zu wenig investiert. Die Regierung von Präsident Wolodymyr Selenskyj wollte daher mehr ausländische Investoren anlocken. Im Februar 2021 wurden Investitionsanreize für einige Großprojekte beschlossen. So wurde der Bau von mehreren neuen Blöcken in den 15 Atomkraftwerken geplant. Staatsbetriebe sollten privatisiert, Bahnhöfe, Häfen und Flughäfen verkauft werden.

Ohne internationale Geber werden die geplanten Infrastrukturprojekte auch nach einem möglichen Frieden nicht zu finanzieren sein. So hat der Internationale Währungsfonds (IWF) nach einer längeren Verzögerung der Ukraine im November eine Kredittranche über 700 Millionen US-Dollar aus dem seit 2020 laufenden Beistandspaket überwiesen. Zwei weitere Tranchen sollen bis Ende Juni folgen. In der kommenden Woche will der IWF über eine Notfinanzierung entscheiden. Dieses Geld wird vom Staat dringen benötigt: Fitch hat nach dem russischen Angriff als erste Ratingagentur die Kreditwürdigkeit der Ukraine und ihrer Banken auf Ramschniveau heruntergestuft. Damit droht dem Land die Zahlungsunfähigkeit.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal