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»Die Stärke der Ukraine ist ihre Einigkeit«

Die ukrainische Journalistin Inga Pylypchuk über Moskaus Krieg gegen ihr Land, das Verhältnis zu den Russen und linke Osteuropapolitik

  • Birger Schütz
  • Lesedauer: 9 Min.

Seit der vergangenen Woche führt Russland einen Angriffskrieg gegen ihr Land. Wie erleben Sie die Invasion?
Mich betrifft dieser Krieg wie die meisten Ukrainer ganz persönlich. Das ist eine absolut unmenschliche und brutale Attacke auf mein Land. Gerade sitze ich im Auto und bin auf dem Rückweg von der polnisch-ukrainischen Grenze, wo ich meine 64-jährige Mutter abgeholt habe. Sie wohnt in Kiew und war seit vergangenem Donnerstag in extremer Gefahr. Sie befand sich in einem Haus in der Nähe eines Kiewer Flughafens und musste zwei Nächte in einem Luftschutzbunker in klirrender Kälte verbringen. In der Stadt gab es Explosionen und Raketenbeschuss. Als es vorübergehend etwas ruhiger wurde, hat sie sich getraut und ist mutig mit einem Koffer durch eine Stadt im Ausnahmezustand zum Kiewer Bahnhof gelaufen. Von dort ist sie weiter nach Lwiw in der Westukraine geflüchtet und dann in den polnischen Grenzort Przemyśl gereist, wo ich sie gerade abgeholt habe. Für die Strecke von Lwiw nach Przemyśl benötigt der Zug normalerweise zwei Stunden. Aber jetzt in dieser Situation hat er 27 Stunden gebraucht. Dementsprechend kann man sich vorstellen, in welchem Zustand wir gerade sind. Einerseits ist es ein Gefühl von totalem Glück und Freude, dass sie nun bei mir und in Sicherheit ist. Aber gleichzeitig mache ich mir extreme Sorgen um Verwandte und Freunde, die weiter vor Ort sind.

Bisher sind fast 900 000 Menschen vor dem russischen Angriff ins Ausland geflüchtet. Bereits jetzt handelt es sich um die größte Fluchtbewegung in Europa seit den Balkan-Kriegen im ehemaligen Jugoslawien. Wer bleibt dennoch?
Es gibt viele Menschen, die in der Ukraine bleiben und kämpfen wollen. Ich habe sehr nahe Freunde in Mariupol, welche die Stadt nicht verlassen wollen. Sie sind Aktivisten und haben gesagt: »Wir bleiben hier. Wir lassen nicht zu, dass unsere Stadt einfach mit Gewalt übernommen wird.« Ich mache mir riesige Sorgen um sie und um alle, die seit mehreren Nächten in Kiew in Kellern, Bunkern und der U-Bahn auf dem Boden übernachten müssen, um irgendwie in Sicherheit zu sein. Putin führt seit vielen Jahren einen Krieg in der Ukraine. Der Krieg im Donbass tobt seit 2014 und auch die Annexion der Krim waren militärische und gewaltsame Operationen. Wir haben aber nicht geahnt, dass es noch so viel brutaler werden kann und der Krieg wirklich alle Ecken des Landes betrifft und die Menschen in einen totalen Horror versetzt.

Interview
Inga Pylypchuk wurde in Kiew geboren und lebt seit 13 Jahren in Berlin. Sie arbeitet als Dokumentarfilmerin und freie Journalistin für deutsche und ukrainische Medien. Für das Netzwerk für Osteuropa-Berichterstattung (n-ost) realisierte sie Projekte mit Ukraine-Bezug. Außerdem betreut sie den Bereich Kommunikation des Kiewer Dialogs, der sich für den Austauch zwischen Deutschland und der Ukraine einsetzt.

In Deutschland - und generell im Westen - wurde bis zum letzten Moment ein Angriff Putins nicht für möglich gehalten. War man in der Ukraine auch so überrascht, dass der Kreml wirklich ernst machte?
Uns hat vor allem das Ausmaß der Grausamkeit überrascht. Putin ist einfach komplett durchgedreht! So etwas konnte man sich nicht vorstellen. Klar war: Seit 2014 führt Putin einen Krieg in der Ukraine. Das Land sollte destabilisiert werden, damit es nicht EU oder Nato beitritt - und in Russlands Einflusszone verbleibt. Zum Erreichen dieser Ziele wurde aber eine ganz andere Methode verwendet: der hybride Krieg. Das heißt: Viel Desinformation, viel russische Propaganda und auch einzelne Attacken der russischen Armee. Denken Sie zum Beispiel an die Schlachten von Ilowajsk 2014 und Debalzewe 2015, an denen sich auch reguläre russische Truppen beteiligten. Und es wurden Waffen aus Russland an die sogenannten Separatisten geliefert. Russland machte das aber alles verdeckt. Das war immer so eine schizophrene Art und Weise: Man führt Krieg, behauptet auf der internationalen Ebene aber, man sei Friedensvermittler. An dieses Vorgehen hatten wir uns schon lange gewöhnt. Dass man uns nun so offensiv, absolut und total den Krieg erklärt, hat auch die Ukrainer überrascht und erschüttert.

Die russische Invasion kommt langsamer voran als erwartet. Wie schätzen Sie die Chancen der ukrainischen Armee im Kampf gegen den Aggressor ein?
Ich bin keine Militärexpertin und kann das nicht beurteilen. Ich sehe aber, dass die Menschen hinter der ukrainischen Armee stehen. Das ist im Moment ihre Stärke. Das Gleiche gilt für Präsident Selenskyj, der sich in diesen Tagen erstaunlich konsequent zeigt. Ich will ihn gar nicht zu viel loben: Als Präsident war er nicht immer so erfolgreich. Ständig gab es innenpolitische Streitereien zwischen ihm und dem früheren Präsidenten Petro Poroschenko. Dabei standen nicht immer so viele Menschen hinter Selenskyj. Die Stärke der Ukraine liegt jetzt jedoch in dieser Einigkeit. Zudem wissen alle, dass die Gerechtigkeit auf unserer Seite ist: Wir verteidigen uns und können einfach nicht anders. Niemand wollte diesen Krieg! Im Gegensatz zu 2014 ist die Armee diesmal auch besser vorbereitet. Damals hatten wir keine Armee und keine Soldaten, die wirklich kämpfen konnten. Die russischen Soldaten sind zudem ernüchtert: Sie sehen, dass sie in der Ukraine überhaupt nicht willkommen sind. Sie führen einen Krieg ohne irgendeinen guten Grund oder Zweck. Es geht nicht um Gerechtigkeit, sondern um Putins Willen. Die Ukrainer wissen dagegen, wofür sie kämpfen. Ich hoffe, dass das dazu führt, dass die Stärke auf der Seite der ukrainischen Armee ist. Aber natürlich braucht sie extrem viel Unterstützung vom Westen und von allen Ländern, die Waffen liefern können.

Putin will Selenskyj offenbar stürzen, möglicherweise sogar seinen Tod. Ist eine ukrainische Marionettenregierung von Moskauer Gnaden denkbar?
Wenn man sich die Stimmung in der ukrainischen Bevölkerung anschaut, ist das absolut unmöglich. Es gibt keinen Menschen in der Ukraine, egal, welche Sprache er spricht, Ukrainisch oder Russisch oder sonst etwas, der Wladimir Putin nicht hasst. Andererseits: Aus der Geschichte der Tschetschenienkriege wissen wir, dass mit richtig viel Gewalt, Blut und Tod alles Mögliche erreicht werden kann. Wenn man alle Leute, die Widerstand leisten können, aus dem Land vertreibt und alle Städte zerbombt, können auch Marionetten inthronisiert werden. Das wäre das Allerschlimmste, was der Ukraine passieren kann. Ich hoffe, dass es nicht dazu kommt und wir genug Unterstützung erhalten, solange es noch nicht zu spät ist.

Moskau fordert eine Demilitarisierung der Ukraine und die Anerkennung der Krim-Annexion. Wie viel Raum für Zugeständnisse an Russland geben die Ukrainer ihrem Präsidenten?
Das ist wirklich eine sehr, sehr schwierige Frage. Die Ukrainer sind natürlich daran interessiert, dass das Schießen und die Bombardierungen aufhören. Sie wollen nicht, dass Freunde und Angehörige erschossen werden. Sie wollen, da sie jetzt in diesem Kampf stehen, aber auch kein Stück Land verlieren. Teile des Landes abzugeben, ist undenkbar. Andere Zugeständnisse müssen Politiker und Diplomaten ausloten. Selenskyj hat in der Vergangenheit schon gesagt, dass die Ukraine über einen neutralen Status nachdenken kann, wenn Putin der Nato-Status so wichtig ist. Aber wo sind dann die Garantien, dass die Ukraine nicht auf diese Art und Weise angegriffen wird, die wir jetzt sehen?

Der Kreml beklagt einen angeblichen »Genozid« an Russischsprachigen in der Ukraine und fordert eine »Entnazifizierung« Was ist dran an den Vorwürfen?
Also ganz ehrlich (lacht). Das ist totaler Bullshit. Ich verstehe nicht, wie jemand daran glauben kann. Es gibt wirklich nichts an diesem Vorwurf. Putin hat 2014 diesen Mythos von den Nazis in der Ukraine gestartet. Das war eine gut überlegte Propagandakampagne. Man hat dieses Klischee vom ukrainischen Nationalismus mit inszenierten Reportagen belebt. Zu behaupten, dass Selenskyj, der jüdischer Abstammung ist und aus einer russischsprachigen Familie kommt, ein Nazi sei (lacht), ist so eine komplette Verdrehung der Realität, dass ich gar nicht verstehen kann, warum man das noch ernsthaft erklären sollte. Es ist einfach ein Vorwand, um in die Ukraine einzumarschieren.

Ukrainer und Russen stehen sich kulturell sehr nah. Wie schätzen Sie die langfristigen Folgen von Putins Aggression für das gemeinsame Verhältnis ein?
Ich würde nicht zustimmen, dass die Kulturen so verwoben sind. Vor allem in den letzten sieben, acht Jahren haben sich Ukrainer und Russen weit voneinander entfernt. Natürlich haben wir eine gemeinsame Geschichte, aber diese war oft auch schmerzvoll. Es war eine Geschichte russischer Dominanz und Unterdrückung und der Repressionen gegen Ukrainer in der Sowjetunion. Die Ukraine ist auf dem Weg, sich von Russland unabhängig zu machen. Das betrifft auch die Mentalität. Man kann die Geografie natürlich nicht verändern und Russland wird unser Nachbar bleiben. Dass unsere Kulturen wieder zueinander finden, ist aber nur sehr langfristig denkbar - und unter der Bedingung, dass sich Russland ändert, eine andere politische Kultur entsteht und diese traditionelle autoritäre Art verschwindet. Es gibt auch viele Russen, die das wollen. Das könnte aber Jahrzehnte dauern. Die Ukrainer werden diesen schrecklichen und gemeinen Krieg nicht vergessen und verzeihen. Im Moment beobachten wir eine sehr brutale Trennung - vielleicht für immer.

In Deutschland wird traditionell viel über Russland gesprochen. Über die Ukraine weiß man dagegen nur wenig. Für den Freiheitskampf der Ukrainer gab es bis vor kurzem kaum Empathie. Warum?
Die Ukraine ist für die meisten Deutschen marginal. Russland war dagegen immer zentral und wichtig und wurde von vielen mit der Sowjetunion gleichgesetzt. In der deutschen Öffentlichkeit wurde verdrängt oder ignoriert, dass es da auch noch andere Republiken gab, die heute unabhängige Länder sind. Viele hat das auch einfach nicht genug interessiert. Die Ukraine ist seit 30 Jahren unabhängig. Aber erst seit 2014 taucht sie verstärkt in Medien und Forschung auf. Davor war sie einfach ein blinder Fleck, wie viele Historiker, Sozialwissenschaftler und andere Forscher bestätigen. Russland prägte den deutschen Blick auf Osteuropa. Dass es zwischen Berlin und Moskau auch andere Länder gibt, die genauso wichtig sind, wurde nicht so richtig wahrgenommen. Ich würde mich freuen, wenn sich das nun ändern würde. Die Ukraine ist ein großes und wichtiges europäisches Land, das offen für Demokratie und die nachhaltige Entwicklung einer Zivilgesellschaft ist. Es ist sehr zu begrüßen, dass sich in Deutschland nun mehr Menschen für die Ukraine interessieren. Der Preis, den wir dafür zahlen, ist natürlich schrecklich. Ich hätte mir gewünscht, diese Empathie für die Ukraine wäre früher möglich gewesen - und nicht erst seit Bomben auf unsere Städte fallen.

Russische Sicherheitsinteressen und die Nato-Osterweiterung prägen die Diskussion in der Linkspartei. Nun hat Fraktionschefin Mohamed Ali im Bundestag eine Fehleinschätzung der Absichten Wladimir Putin eingeräumt. Konnte man angesichts dessen diverser Äußerungen zur »historischen Einheit« von Russland und Ukraine wirklich überrascht sein?
Ich finde, das ist ein bisschen verlogen. Es war schon so lange klar, wer Putin wirklich ist. Auch wenn die Dimension nicht klar war - die Richtung war es. Wenn man Sahra Wagenknecht über Russland und Putin gehört hat, war das einfach entsetzlich. Ich weiß, dass es bei den Linken unterschiedliche Lager gibt, die unterschiedlich auf das Verhältnis zu Russland blicken. Aber was ich von dem offiziellen Kurs mitbekommen habe, war meistens einfach sehr peinlich. Ich weiß nicht, warum diese Haltung so eingenommen wurde. Aber eigentlich trägt die Partei damit auch Mitverantwortung für das, was jetzt passiert.

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