Der ewige Ketzer

Aus den Ruinen kommend: Vor 100 Jahren wurde der Filmemacher Pier Paolo Pasolini geboren

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 7 Min.

An die großen Ideen glaubte er nicht. Der Mensch vereinigt Niedrigstes und Höchstes in sich, Reinheit und Schmutz - und beides zeigt sich immer dort, wo man es am wenigsten vermutet. Dieser Zusammenhang interessierte Pier Paolo Pasolini lebenslang. Irgendwie war er zwar Kommunist, aber eher im Sinne Franz von Assisis, des ersten unter den »minderen Brüdern«, die dienen und nicht herrschen wollten und das Geld verachteten.

Die Kommunistische Partei aber war ihm suspekt, wie alle Ideologieträger, die anderen sagen, welchen Weg sie gehen sollen. Er aber bekennt: »Ich bin eine Kraft der Vergangenheit, ich komme aus den Ruinen!« und spielt damit auf den gesellschaftlichen Gegensatz von Katholizismus und Kommunismus im Nachkriegsitalien an. Exzessiv feiert er das Paradox: »Ich liebe die Welt, die ich hasse.«

Über die Absurditäten von Geschichte, die Allgegenwart von Lügen, wusste der am 5. März 1922 in Bologna geborene Pasolini früh Bescheid. Sein Bruder Guido kämpfte in einer katholischen Partisanengruppe gegen die Faschisten und wurde Anfang 1945 von einer rivalisierenden titoistischen Partisanengruppe ermordet. Und Pasolini selbst, der im Nachkriegsitalien seine Homosexualität entdeckte, flog daraufhin als »Perverser« aus der KPI und bekam als Lehrer, als der er anfangs arbeitete, Berufsverbot. Doch diese Stigmatisierung brachte ihn zur Kunst.

In seinen großartigen Milieustudien »Rom, Rom«, die sich wie launige Feuilletons lesen und doch miniaturisierte Tragikomödien sind, taucht er ein in das Milieu der Underdogs der Großstadt: der kleinen Straßenhändler, Gelegenheitsdiebe, Stricher und Hochstapler, denen er sich nahe fühlt. Sie sind zu Exzessen aller Art fähig, aber auch zu einer unerhörten Hochherzigkeit, die den jungen Autor Pasolini fasziniert. Er liebt diese oft missachteten Menschen so wie sie sind, ohne sich Illusionen über sie zu machen - und das spüren die Porträtierten. Denn er macht sie nicht zum Objekt der Fürsorge und Erziehung, sondern achtet das Mysterium, das Geheimnis, das sie in sich tragen. So notiert er über einen Jungen, der in einem Elendsviertel nahe des Tibers Röstkastanien verkauft: »Ich gehe um den Kreis herum, aber ich dringe nicht ein: Das Herz des Jungen ist der Zeit voraus, die meine Uhr nicht einmal anzeigt, seine Jahre sind gezählt, zu tief ist er im Elend begraben.«

Das klingt schon fast wie seine filmische Versuchsanordnung: »Teorema - Geometrie der Liebe« von 1968, die viele Zuschauer ratlos zurückließ. Der Vorwurf der Dekadenz wurde nun immer häufiger gegen ihn erhoben - gleichermaßen von katholischer wie kommunistischer Seite. Aber Pasolini hatte die herrschende Massenkultur mit ihren simplen Antworten auf hochkomplexe Zusammenhänge vor Augen und plädierte für eine durchaus elitäre Kunst, die sich nicht für Zwecke des Konsums oder der Ideologie instrumentalisieren lasse. Für einen, der bevorzugt mit Laien arbeitete, war dieser Affront gegen jede »Volkstümlichkeit« erstaunlich.

Für Pasolini, der Bilder nicht von Abbildern, sondern von Urbildern her denkt, ist Kunst eine Sprache, die man erlernen muss. Lerne lesen, lerne sehen, lerne selber urteilen! Mit unerhörter Wucht kontert er in seiner Publizistik die Selbstbilder derer, die sich als die Guten und Fortschrittlichen ausgeben, denen man nur folgen müsse. Der Titel seiner Texte lässt die Wut derer erahnen, die sich von seinen Polemiken gemeint fühlen. Den scheinheiligen Schönrednern eigener schnöder Interessen darf man als theoretisch ambitionierter Kopf nie glauben - und so schrieb er Texte unter Überschriften wie: »Der Koitus, die Abtreibung, die Schein-Toleranz der Herrschenden, der Konformismus der Progressiven« oder auch, die linke Selbstkritik auf die Spitze treibend: »Der Faschismus der Antifaschisten«.

Wer so etwas schreibt, steht schnell auf verlorenem Posten, aber dies ist auch der einzige Platz, auf dem er aushalten will. »Freibeuterschriften«, so hieß dann auch die berühmte Reihe im Geiste Pasolinis, die sein deutscher Verleger Klaus Wagenbach herausgab.

Pasolini war stets Außenseiter. Das ist einer, den sie alle, Freunde wie Feinde, verketzern - doch nicht von ihm loskommen. Er hätte es einfacher haben können, aber das wollte er nicht. 1957 kam er zum Film, als Mitarbeiter von Federico Fellini, der gerade »Die Nächte der Cabiria« drehte. Die Geschichte einer Vorstadthure. Diese wird brutal ausgebeutet und misshandelt, schließlich fast ermordet. Giulietta Masina spielt sie als naive Auserwählte, die das Heilige und Ketzerische in sich vereinigt. Diesem Motiv folgt Pasolini fortan in seinen eigenen Arbeiten.

Sein erster eigener Film war 1961 »Accattone - Wer nie sein Brot mit Tränen aß«. Er stellt einen jungen Zuhälter am Rande Roms ins Zentrum. Dieses Milieu kennt Pasolini gut, er bemerkt darin die renitente Verweigerung einer bürgerlichen Existenzform ebenso wie die der klassenbewussten Arbeiter. Da liegen anarchische Kräfte brach, die sich auf ihre - oft kleinkriminelle - Weise dem Modernisierungs- und Normierungsdruck entziehen.

Diese Entwurzelten kommen in den 60er Jahren zumeist noch vom Lande, wo sie nicht mehr existieren konnten. Nun wollen sie lieber Täter als Opfer sein. Und so treten sie den arrivierten Großstädtern entgegen. Solch ein Pirat in den Randbezirken der Großstadt ist auch Accattone, aber ein trauriger, erlösungsbedürftiger. Der später berühmt gewordene Regisseur Bernardo Bertolucci war bei »Accattone« Pasolinis Assistent und schreibt rückblickend über die Art, wie dieser Filme drehte: »Wenn er eine Fahrt mit der Kamera machte, wirkte es wie die erste Kamerafahrt der Filmgeschichte«. Alles, was Pasolini tat, wirkte wie zum ersten Mal getan - diese Magie bewahrte er sich bis zum Schluss.

Mitte der 60er Jahre versucht sich Pasolini etwa mit »Große Vögel, kleine Vögel« in der neuen Form der Reports, die eine groteske Dimension erlangten. Dafür besetzt er dann auch mit Totò ausnahmsweise einen mit seinem absurden Spiel berühmt gewordenen Schauspieler. Die Ausgangssituation scheint simpel: Wandern zwei, die man für Landstreicher halten könnte, durch seltsame Gegenden - und stehen plötzlich im 13. Jahrhundert im Angesicht des Franz von Assisi, umgeben von ähnlich ruhelosen Gesellen. Aber dies hier sind doch eher ruchlose Pasolini-Gestalten von heute im falschen Film - und ziehen unbeeindruckt weiter.

Doch nun in Begleitung eines philosophierenden Raben, der in Wahrheit ein linksliberaler Intellektueller ist und mit seiner sokratischen Besserwisserei die beiden prinzipienlosen Freibeuter so nervt, dass sie dem allzu klug daherredenden Raben kurzerhand den Hals umdrehen, ihn grillen und aufessen. Totòs Schlusswort zu seinem jungen Begleiter: »Komm mein Sohn, fangen wir von vorn an.«

Das tat Pasolini dann mit jedem seiner weiteren Filme. Am berühmtesten wurde vielleicht »Das 1. Evangelium - Matthäus« von 1964, besetzt mit Laienschauspielern (auch seine Mutter spielt mit als Jesu Mutter) - eine eindrucksvoll zelebrierte Feier urchristlicher Liebe. Oder in »Epido Re« von 1967, die Geschichte von König Ödipus, den er im »Bett der Gewalt« enden lässt. In »Medea« besetzt er 1969 Maria Callas, die da schon ihre große Stimme verloren hatte, in einer stummen Rolle.

Mit seinem »Decameron« entdeckt Pasolini 1971 für den Film das Prinzip des »unbegrenzten Erzählens«, was bedeutet: »Eines nach dem anderen, und eins im anderen, ohne Ende.« Und in »Die 120 Tage von Sodom« von 1975 forciert er den Zusammenhang von Krankheit, Sexualität und Tod vor dem Hintergrund seiner Kritik einer jedes menschliche Empfinden abtötenden Macht. Er verlegt die Handlung in die Republik Salò, Mussolinis letzte Zuflucht im von den Nazis besetzten Norditalien. Das untergehende Regime foltert, vergewaltigt und mordet gefangene junge Frauen und Männer. Angelehnt ist die Erzählstruktur hierbei an Dantes »Inferno« - als Höllenkreise.

Die Zerstörung der Moral ist für Pasolini jedoch nichts bloß retrospektiv im besiegten Faschismus Angesiedeltes, sondern für ihn kehrt ein derartiger Zustand in der Konsumgesellschaft wieder. Der Film wurde zum bis heute andauernden Streitfall darüber, inwieweit Gewaltdarstellung und Pornografie als Kunst gelten können.

Kurz nach Abschluss der Dreharbeiten von »Die 120 Tage von Sodom« wurde Pier Paolo Pasolini am 2. November 1975 in Ostia bei Rom ermordet. Ein 17-jähriger Stricher wurde verurteilt, widerrief sein Geständnis jedoch später. Gerüchte, dass es sich um einen Auftragsmord handelte, halten sich bis heute. Feinde hatte dieser von seinem Naturell her eher sanfte Poet, der die Machtanmaßung der Institutionen wie den Seelenmord des Konsums verachtete, mehr als sich zählen lassen.

Pier Paolo Pasolini: Rom, Rom. Wagenbach Verlag, 120 S., geb.,18 €.

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