»Ich hab’s nicht gelesen, aber ...«

Vor fünf Jahren erschien mit dem Sammelband »Beißreflexe« eine Kritik am queeren Aktivismus und der Einengung des Denkens. Trotz der teils schrillen Reaktionen hat sich an der Sache wenig geändert. Ein kommentierender Rückblick der Herausgeberin

  • Patsy l’Amour laLove
  • Lesedauer: 7 Min.

Wenn ich mir heute die Beiträge in »Beißreflexe« durchlese, kommen in mir zwei eigentlich widerstrebende Eindrücke auf: Wir waren - bei aller Unterschiedlichkeit der vielen Beiträge - einerseits doch sehr vorsichtig in der Kritik und andererseits schrieben wir über die Maßen kompromisslos. Zu dieser Beobachtung kann es nur aufgrund der Einengung im Denken kommen, die die vergangenen Jahre prägte und sich weiterhin zuspitzt. Auf den scheinbaren Widerspruch meiner Eindrücke komme ich gleich zurück. Doch zunächst zu dem Eindruck der Einengung.

Mit seinen 28 Autor*innen und deren inhaltlich teils im Widerstreit miteinander stehenden Beiträge stellte »Beißreflexe« ein Kompendium dar, das sich aus linker und queerer Sicht zwar nicht zum ersten Mal, aber zum ersten Mal in dieser Fülle an unterschiedlichen Beiträgen einer Kritik dessen widmete, was aus Queer in Aktivismus und Academia gemacht wurde. Allein diese Beschreibung muss regelmäßig wiederholt werden. Sie stellt für viele derer, die sich als »Beißreflexe«-Kritiker*innen wähnen, ein Novum dar. Die Auskunft »Ich hab’s nicht gelesen, aber …« prägte die sogenannte Debatte um »Beißreflexe«, wie keine andere, und irritierte besonders dort, wo Professor*innen sich zu einem Buch, aber nicht zu dessen Inhalt äußerten. »Beißreflexe«-Autor*innen wurden dafür kritisiert, dass sie in dem Sammelband veröffentlicht hatten, doch konnten diese sogenannten Kritiken zumeist nicht erklären, warum genau ihre Texte oder die Beteiligung an einem queeren Sammelband selbst nun polemisch, diskriminierend oder anschlussfähig für rechts sein sollten.

Letzteres - dass alles, was Kritik an den sogenannten eigenen Reihen übt, den Rechten in die Hände spielen würde - sollte in den vergangenen Jahren als eine Art moralische Erpressung Karriere machen und jeden Impuls, einen Gedanken zu fassen, der nicht geradlinig, sondern tatsächlich queer - im Sinne eines kritischen, die Zumutungen der Normalität hinterfragenden Vorhabens - ist, im Keim mittels einer Harmoniesoße zu ersticken. Eine Harmonie, die sich in der Selbstdarstellung ins außen richtet, hinter deren Fassade man nach innen aber, wie einige Beiträge in »Beißreflexe« anhand vieler Beispiele aufzeigen, durchaus Disharmonie und autoritäre Aggressivität zugeneigt ist.

Vorauseilender Gehorsam aus Angst

Tatsächlich muss man sagen: Was in »Beißreflexe« in unterschiedlicher Weise beschrieben wurde, wurde von der queerfeministischen Realität radikal überholt. Was als zu polemisch kritisiert wurde - ohne zu benennen, was damit genau gemeint sein sollte -, haben diejenigen, die sich als Speerspitze von Queer ausgeben, übererfüllt. Queere Institutionen und Clubs lösten sich von ihrem schwul-lesbischen Erbe, das sie nur noch als privilegierte und rassistische Altlast verstanden wissen wollten. Vereine, Redaktionen, Produktionsfirmen, Einzelpersonen, deren Ausrichtung betont emanzipatorisch ist, unterwerfen sich mittlerweile in vorauseilendem Gehorsam im Angesicht dessen, was als lustige Vielfalt vorgestellt wird, der Selbstzensur, um bloß nichts Falsches zu machen, um bloß nicht auf ewig als problematisch und anschlussfähig für rechts zu gelten. Es geht nicht mehr darum, gegen Diskriminierung zu kämpfen, sondern nicht als diskriminierend rüberzukommen. Ein Unterschied ums Ganze.

Aus der Angst, sich falsch zu äußern, und dem Druck, sich als irgendwie privilegienbewusst darzustellen sowie die zu verleumden, die sich angeblich falsch geäußert haben und privilegiert sind, wuchs das, was man als Einengung des Denkens fassen muss. Geradezu vulgär sind die Äußerungen bezüglich »Beißreflexe« zu nennen, das Buch sei irgendwie queer- und transfeindlich: Wer Queer und bestimmte, den emanzipatorischen Gehalt von Queer eigentlich verunglimpfende Interpretationen kritisiert, so die Einengung, sei feindselig und hasserfüllt gegen queere Menschen. Jede Kritik, jedes Denken, das mehr als bloßes Posieren will, wird so »verunmöglicht«, wie der queer-theoretische Jargon das nennt.

Pseudotolerante Lippenbekenntnisse

Die Einengung des Denkens zeigt sich aktuell in der sogenannten Debatte um Trans, Transaktivismus und Radikalfeminismus. Eine trans Bundestagsabgeordnete wurde von Feministinnen bei ihrem früheren männlichen Namen genannt und als Mann in Frauenkleidern bezeichnet. Das ist nicht bloß geschmacklos, sondern ein Auswuchs an tumber Transfeindlichkeit. Dass nun aber alle, die sich nicht nur kritisch äußern, sondern geneigt sind, einerseits zu hinterfragen, welche Reformen in der Behandlung von Transpersonen sinnvoll sind, und andererseits, welche Entwicklungen der Ablehnung von Weiblichkeit zu diskutieren, wie die Geschichten sogenannter Regretter*innen einzuordnen sind und dergleichen diskutiert werden sollten - dass die alle transfeindlich, offen für rechts oder gleich faschistisch sein sollen, zeigt die in Ungnade gefallene Ermöglichung von etwas, das die Bezeichnung Debatte tatsächlich verdiente. Nahezu vergessen sind Allgemeinplätze wie: Es gibt Positionen, die nicht transfeindlich sind, die sich gegen die Diskriminierung von Transmenschen stellen und zugleich Aspekte desjenigen Teils des Transaktivismus, der sich queerfeministisch nennt, kritisieren.

Kurz gefasst laufen die Positionsbestimmungen aber so: Man ist entweder dafür, auf der guten Seite, oder dagegen und damit transfeindlich. Wogegen und wofür eigentlich, interessiert niemanden, und ich bin überzeugt: versteht auch kaum eine*r mehr: »Ich hab’s nicht gelesen, aber …« eine Meinung dazu raushauen, ein Instagram-Like kassieren kann man ja trotzdem. #diversity! Dieser Aktivismus oder vielmehr: dieses Aktivismusverständnis befördert die genannte Selbstzensur und damit das Ressentiment hinter vorgehaltener Hand. Nach vorne hinaus wissen mittlerweile nicht mehr bloß queere Medien und Vereine, wie man sich zu verhalten und welchen Hashtag man nicht zu setzen hat. Darüber hinaus hat sich im Mainstream durchgesetzt, dass man nach außen hin Antidiskriminierung präsentiert, während sich nach innen die meisten genervt davon zeigen. Einer Antidiskriminierung erweist man damit einen Bärendienst: Queer ist in den vergangenen Jahren zu einer leeren Strategie, nicht zuletzt zu einer Werbestrategie möglichst greller Regenbogenfähnchen im Wind geworden - und dieser Wind kann sich jederzeit wieder drehen. Weniger polemisch ausgedrückt: Echte Toleranz wurde nicht befördert, sondern pseudotolerante Lippenbekenntnisse.

Überraschender Erfolg

Somit komme ich auf den Anfang zurück und die widerstrebenden Eindrücke. Aus meiner heutigen Sicht erst kann sich der Sammelband »Beißreflexe« zugleich als betont vorsichtig darstellen und kompromisslos sowie mutig erscheinen. Vorsichtig dann, wenn man sich die vom Inhalt des Buches abgehobenen Vorwürfe vor Augen führt, »Beißreflexe« sei übermäßig polemisch. Und mutig kompromisslos, wäre das Buch in diesem Jahr 2022 mit der zunehmenden Einengung jeglichen Diskurses veröffentlicht worden. Dabei ist das alles noch gar nicht lange her. Vor genau fünf Jahren erschien die erste Auflage des Sammelbandes »Beißreflexe - Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten« im Berliner Querverlag. Zu diesem Zeitpunkt im März 2017 ging ich noch nicht davon aus, dass sich das Fünfjährige dieses Buches tatsächlich wie ein kleines Jubiläum anfühlen sollte.

Der Grund dafür liegt mit Sicherheit in dem Überraschungserfolg. Mir und auch dem Querverlag war durchaus klar, dass so ein Buch nicht nur zur Reflexion, sondern auch zu Wutanfällen führen würde - doch das nachfolgende mediale Echo sahen wir nicht wirklich voraus. In den beiden Jahren zuvor hatten die Querverlagsverlegerin Ilona Bubeck und ich mehrmals über die Idee gesprochen, einige kritische Stimmen zu sammeln, die sonst nur vereinzelt Veröffentlichung in Artikeln und Vorträgen fanden. Hieraus entstand der lose Zusammenhang der Autor*innen, deren Beiträge sich mitunter offen widersprechen. Nichtsdestotrotz fantasiert das eingeengte Denken vieler selbsternannter Vorreiter*innen von Queer bis heute ein »Beißreflexe-Kollektiv«. Ich werde nicht müde zu sagen, dass es das nicht gibt.

Die Herausgabe von »Beißreflexe« führte mich an entlegene Orte wie Salzburg oder Bielefeld. Ich konnte mit Tübinger Queerfems und Dresdner Linksradikalen ins Gespräch kommen. Die Rote Flora in Hamburg war übervoll, und draußen demonstrierten - oder »cornerten« - Gegner*innen (eines linken Sammelbandes!), indem sie Sojabratwürste verteilten. Ich habe keine abbekommen. In Mainz protestierte eine Handvoll Studis verkleidet gegen meinen Vortrag, indem sie den Raum verließen. Mit Perücke, Make-up und Bier gegen den Auftritt einer Tunte. Insgesamt aber waren die Begegnungen bei den vielen Vorträgen weniger schrill, sondern intellektuell sowie politisch anregend, erkenntnisreich. Und das lag in der zu jener Zeit einzigartigen Sammlung queerkritischer Texte aus queerer Perspektive.

Mit dem Sammelband ist uns tatsächlich etwas gelungen. Nicht in dem Sinn, dass wir unfreiwillig in die Glaskugel schauten und die weiter vorangetriebene Verunglimpfung von Queer und Vielfalt durch einige Queers und Queerfeminist*innen voraussahen. Bis heute aber melden sich Kulturschaffende, Aktivist*innen, Autor*innen, die - wenn auch zunächst zögerlich und noch heute hinter vorgehaltener Hand - dankbar sind über ein Buch, das zur richtigen Zeit den Finger in die offenen Risse einer glitzerqueeren Fassade legte.

»Beißreflexe« erscheint demnächst in der sechsten, erweiterten Auflage. Für den Abend des 5. März lädt Patsy l’Amour laLove in der Großen Freiheit in Berlin-Friedrichshain zur Gala »Fünf Jahre Beißreflexe«.

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