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Zwölf Euro – war’s das?
Mindestlohn und Tariftreue: Zu den Plänen der Ampel-Koalition für Niedriglohn-Beschäftigte
Im Januar 2005 verkündet Gerhard Schröder, Kanzler der rot-grünen Koalition: »Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, die es in Europa gibt.« Kaum vorstellbar, dass sich ein Spitzenpolitiker heute für so etwas rühmt – Niedriglöhne gelten mittlerweile als Problem. Sie sind aber immer noch da und für rund 7,8 Millionen Beschäftigte Realität. Nun regieren SPD und Grüne wieder, diesmal im Dreierbündnis mit der FDP. Welche Effekte sind von dem Mindestlohn-Plan und anderen Vorhaben der Ampel auf den Niedriglohnsektor zu erwarten?
Als Niedriglöhne werden nach internationaler Definition Bruttoverdienste bezeichnet, die weniger als zwei Drittel des mittleren Entgelts betragen. Sie sind also ein Maßstab dafür, wie ungleich Beschäftigte in einem Land bezahlt werden. In Deutschland ist diese Ungleichheit besonders ausgeprägt. Das zeigen Daten, die das Statistische Bundesamt kürzlich für 2018 vorlegte: Demnach erhielten im EU-Durchschnitt 15,5 Prozent der Beschäftigen einen Niedriglohn, hierzulande waren es rund 21 Prozent. Daran hat sich bis heute praktisch nichts geändert. Auch im vorigen Jahr war rund ein Fünftel aller Beschäftigten Geringverdienende mit einem Bruttostundenlohn von weniger als 12,27 Euro.
Kräftig ausgebreitet haben sich schlecht bezahlte Jobs hierzulande bereits vor den rot-grünen Hartz-Reformen. So wuchs der Anteil der Niedriglohn-Beschäftigten zwischen 1997 und 2008 von 16 auf fast 24 Prozent. Damals wurde der Arbeitnehmerschutz nach und nach abgeräumt und die Machtverhältnisse wurden zugunsten der Unternehmen verschoben. Die Hartz-Reformen passen sich ein in diese Entwicklung, die von der Politik und von Unternehmen vorantrieben wurde:
In den 1990er Jahren deregulierte und privatisierte die Politik zahlreiche Dienstleitungen, von der Abfallentsorgung über den Nahverkehr und die Luftfahrt bis zur Brief- und Paketzustellung. Diese Privatisierungswelle »hat unsere Gesellschaft stärker verändert als die Hartz-Gesetze. Viele öffentliche, gut bezahlte Mittelstandjobs wie bei den Postdienstleistungen wanderten in den Niedriglohnsektor«, schrieb der Sozialforscher Gerhard Bosch von der Uni Duisburg-Essen im vorigen Jahr in OXI.
Der Lohnverfall ist Folge eines politisch gewollten Marktmechanismus, der sich nunmehr freier entfalten kann: Unternehmen verschaffen sich einen Wettbewerbsvorteil, indem sie niedrigere Gehälter zahlen. Die sinkende Tarifbindung erleichtert diesen Wettbewerb. Im Einzelhandel weigerten sich die Arbeitgeber nach der Jahrtausendwende, Entgelt-Tarifverträge weiterhin für allgemeinverbindlich erklären zu lassen. In vielen Branchen schufen die Arbeitgeberverbände sogenannte OT-Mitgliedschaften: Unternehmen können seither ohne Tarifbindung Mitglied sein und niedrigere Gehälter zahlen. Damit trugen die Verbände dazu bei, dass immer weniger Beschäftigte in einem Betrieb mit Branchentarifvertrag arbeiten. Zuletzt waren es noch 43 Prozent. Mit den Hartz-Reformen erhöhte die rot-grüne Regierung den Druck auf Arbeitnehmer und forderte von Jobsuchenden, nahezu jede Stelle anzunehmen.
All dies führte dazu, dass Unternehmen die Lohnkosten senken konnten. 2008 erhielten mehr als zwei Millionen Beschäftigte weniger als 6 Euro pro Arbeitsstunde – und das, obwohl die Wirtschaft zuvor kräftig gewachsen war. Die Vergütung erreichte ein derart niedriges Niveau, dass sich die Politik schließlich zum Eingreifen genötigt sah und 2015 einen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro einführte.
Daran will die Ampel-Koalition nun anknüpfen und den Mindestlohn auf 12 Euro anheben. Nach einem Entwurf des Arbeitsministeriums soll dieser Satz ab Oktober gelten. Die Koalition zieht damit eine neue Lohn-Untergrenze ein, an die sich alle Unternehmen halten müssen – nicht mehr und nicht weniger.
Wird der Plan umgesetzt, haben rund sieben Millionen Menschen Anspruch auf ein höheres Gehalt – Paketzusteller und Reinigungskräfte ebenso wie Beschäftigte im Einzelhandel und Gastgewerbe, die besonders oft wenig Geld für ihre Arbeit erhalten. Das ist eine klare Verbesserung. Sie führt aber nicht unmittelbar dazu, dass der Niedriglohnsektor schrumpft. Denn auch zwölf Euro pro Stunde sind ein Niedriglohn – die Schwelle lag zuletzt bei 12,27 Euro.
Hinzu kommt, dass die Ampel Minijobs, also geringfügige Beschäftigung, weiterhin fördern will, die besonders schlecht bezahlt werden und besonders betrugsanfällig sind. Rund 77 Prozent aller geringfügig Beschäftigten erhielten zuletzt einen Niedriglohn. Oft werden sie nur bei Anwesenheit bezahlt. »Sie erhalten meist keinen bezahlten Urlaub und keine Lohnfortzahlung bei Krankheit, obwohl sie Anspruch darauf haben«, sagt Bosch. Damit wird der gesetzliche Mindestlohn faktisch unterlaufen.
Dennoch will die Ampel diese Beschäftigungsform, die sich enorm ausgebreitet hat – rund sieben Millionen Menschen hatten zuletzt einen Minijob –, nicht zurückdrängen, im Gegenteil: Künftig sollen Minijobs bis zu einem Monatseinkommen von 520 Euro erlaubt sein, bislang liegt die Grenze bei 450 Euro. Damit gibt es für Unternehmen keinen Grund, Minijobs in weniger betrugsanfällige sozialversicherungspflichtige Stellen umzuwandeln, wenn der Stundenlohn steigt und damit auch die Monatsvergütung.
Und was ist mit sogenannten Sekundäreffekten eines Mindestlohns auf Beschäftigte, deren Gehalt darüber liegt? Diese gab es tatsächlich nach Einführung des gesetzlichen Mindestlohns 2015. Damals erhielten nicht nur direkt Betroffene mehr Geld. Vielmehr seien die Monatsgehälter in der ganzen unteren Hälfte der Einkommensskala überproportional gestiegen, sagt Mario Bossler, Mindestlohn-Experte beim Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit (IAB). Insgesamt ist die Niedriglohnquote dabei erst 2018 erkennbar gesunken, sie ist aber weiterhin hoch.
Bosch rechnet denn auch damit, dass der Niedriglohnanteil nicht stark sinken wird, wenn 12 Euro zur Pflicht werden. Zwar werden Gewerkschaften versuchen, die Abstände zwischen den Lohngruppen wieder herzustellen: Wenn Ungelernte künftig 12 Euro erhalten, sollen Angelernte mehr bekommen. Allerdings sind die Gewerkschaften gerade in betroffenen Branchen wie dem Gastgewerbe oft schwach, die Tarifbindung ist häufig sehr gering.
Genau hier sollte die Politik nach Boschs Ansicht ansetzen: Wenn sie den Niedriglohnsektor austrocknen wolle, müsse sie die Tarifbindung stärken. Dadurch würde nicht nur eine unterste Haltelinie eingezogen. Vielmehr würden auch mittlere Gehälter gestärkt. Das sei gerade jetzt wichtig: Durch die ökologische Transformation würden vor allem gut bezahlte Arbeitsplätze in der Industrie verschwinden. »Die Lohnverluste bei einem erzwungenen Jobwechsel sind oft erheblich«, so Bosch. Durch eine höhere Tarifbindung ließe sich die monetäre Absturzgefahr verringern.
Im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP findet sich dazu tatsächlich ein Vorhaben: Verabredet ist, dass der Bund künftig nur noch Aufträge an Firmen vergibt, die sich an repräsentative Tarifverträge der jeweiligen Branche halten. Diese Unternehmen müssten dann nicht nur den Mindestlohn zahlen, sondern auch Facharbeiterinnen und Meister nach Tarif vergüten.
Das ist für Bosch zumindest ein Anfang, der eine Wende einleiten könnte. Dazu müssten Kommunen und Länder nachziehen und bestehende Tariftreuegesetze, die bislang oft lückenhaft sind, ausweiten. Zudem seien mehr allgemeinverbindliche Tarifverträge nötig, an die sich alle Unternehmen einer Branche halten müssen. Bislang gibt es solche Abkommen nur in wenigen Wirtschaftszweigen, meist sind nur die untersten Entgelte geregelt.
Daran dürfte sich vorerst nichts ändern: Die Ampel plant nicht, allgemeinverbindliche Tarifverträge zu erleichtern. Immerhin unterstützt sie einen Vorschlag der EU-Kommission für eine Arbeitsmarkt-Richtlinie. Danach müssen Staaten, in denen weniger als 70 Prozent der Beschäftigten tarifgebunden sind, einen Plan zur Förderung der Tarifbindung vorlegen. Deutschland müsste demnach etwas tun.
Das Beispiel Frankreich zeigt, wie die Politik den Niedriglohnsektor begrenzen kann. Dort sind laut Bosch fast alle Tarifverträge allgemeinverbindlich, und zwar komplett: Alle Unternehmen einer Branche müssen Ungelernte wie Fachkräfte nach Tarif bezahlen. Wenn der gesetzliche Mindestlohn steige, werde in der Regel das gesamte »Tarifgitter« nach oben geschoben. Darum ist der Anteil der Niedriglohn-Beschäftigten in Frankreich mit 8,6 Prozent weit unter dem EU-Durchschnitt.
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