Widerstand von oben in Chile

Seit Freitag ist der linksreformerische Boric Präsident in Chile, wo der Klimawandel die Armen bereits bedroht

  • Malte Benjamin Seiwerth, Santiago
  • Lesedauer: 5 Min.

Der Präsident mit den schlechtesten Umfragewerten der chilenischen Geschichte gehört der Vergangenheit an. In allen öffentlichen Gebäuden schaute der lächelnde scheidende Präsident Sebastián Piñera von einem Foto auf die Besucher*innen und öffentlichen Angestellten hinunter. Nun werden die Bilder abgehängt, in manchen Büros schon vor dem 11. März, dem offiziellen Tag der Amtsübergabe. In den nächsten Tagen wird überall ein neues Porträt hängen, das vom linksreformistischen Gabriel Boric.

Mit deutlicher Mehrheit siegte der ehemalige Studierendenführer und Parlamentarier am 19. Dezember 2021 in einer Stichwahl über den rechtsextremen Kandidaten José Antonio Kast. Damals hieß es, »die Hoffnung hat über die Angst gesiegt«. Boric trat mit einer Koalition - bestehend aus neulinken Parteien und Gruppierungen sowie der Kommunistischen Partei Chiles - an. Man versprach tief greifende Sozialreformen, eine feministische und grüne Regierung, die das Ende des chilenischen Neoliberalismus einleiten sollte. Mittlerweile prägt ein nüchternes Bild die Möglichkeiten der neuen Regierung.

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Das neue Parlament

In ihrem Reihenhaus, mit engen Zimmern und kleinem Vorgarten, bereitet sich die 49-jährige Parlamentarierin Viviana Delgado auf ihren Einzug in den Kongress vor, denn neben den Präsidentschaftswahlen fanden im vergangenen Jahr auch Parlamentswahlen statt. Seit ihrem 14. Lebensjahr arbeitete Delgado in Nachbarschaftsorganisationen und wurde zur Umweltaktivistin. Vor einem Jahr wagte sie den Schritt, für den Distrikt ihrer Santiagoer Gemeinde, Maipú, zu kandidieren. Und gewann.

Viviana Delgados Sieg in Maipú markierte aber nicht einen Sieg der Linken auf breiter Front. Entgegen vieler Hoffnungen gewannen die rechten Parteien fast die Hälfte der 155 Sitze. Neu hat eine offen pinochetistische ultrarechte Koalition mit 15 Sitzen sogar eine Fraktion. Sie verherrlicht offen die Diktatur von Augusto Pinochet (1973-90). Die Gefolgsleute aus der bisherigen Regierungskoalition des aus dem Amt geschiedenen Präsidenten Sebastián Piñera kommen mit 35 Sitzen nicht einmal auf ein Drittel.

Die Ergebnisse der Parlamentswahlen waren ein schwerer Schlag für die Linke, denn für die ersehnten Reformen braucht es eine parlamentarische Mehrheit. Die neue Regierung von Gabriel Boric musste handeln und ernannte verschiedene Figuren aus der ehemaligen Mitte-links-Koalition Concertación zu Minister*innen. Die Concertación hatte nach dem Ende der Diktatur bis 2010 ununterbrochen regiert und nach der ersten Ära Piñera (2010-2014) noch mal von 2014 bis 2018 - in der zweiten Amtszeit unter Michelle Bachelets, die schon von 2006 bis 2010 regiert hatte. Direkt aufeinanderfolgende Präsidentschaften sind in Chile durch die Verfassung untersagt.

In Borics Kabinett sticht insbesondere die Figur des Sozialdemokraten und ehemaligen Direktors der Zentralbank heraus: Mario Marcel löste als neuer Finanzminister Kontroversen bei linken Sektoren aus, die auf tief greifende Reformen gehofft hatten. Boric verteidigte die Ernennung, nur mit bekannten und in Wirtschaftskreisen anerkannten Gesichtern würde die wirtschaftliche Stabilität für Reformen garantiert sein.

Delgado ist Mitglied der kleinen ökologischen Partei (PEV), die zwei Sitze im Parlament ergattert hat und nicht der Regierungskoalition angehört. Sie begrüßt die neue Regierung: »Endlich wird ein starker Akzent auf Umweltthemen gesetzt.« Mit Maisa Rojas ist eine Wissenschaftlerin zur Umweltministerin ernannt worden, die an zwei Weltklimakonferenzen in Madrid und London teilgenommen hat.

Boric hat ein Kabinett zusammengestellt, dass die verschiedensten Sektoren vereint: Mit Antonia Orellana eine feministische Frauenministerin oder mit Jeanette Jara eine Gewerkschafterin im Arbeitsministerium. Auch der neue Transportminister Juan Carlos Muñoz verspricht dem Klimawandel mit umweltfreundlichen Verkehrsmitteln etwas entgegenzusetzen. Seit Wochen postet er Fahrräder, Fahrradwege und Fotos von Sitzungen mit Fahrradorganisationen auf seinem Twitter-Auftritt.

Ganze Regionen trocknen aus

Delgado meint, solche Figuren seien enorm wichtig, denn der Klimawandel wird Chile sehr hart treffen. Schon jetzt trocknen ganze Regionen aus und seit Wochen warnen Behörden und das Trinkwasserunternehmen vor möglichen Rationierungen in der Hauptstadt Santiago.

Auch deshalb mahnt Delgado zum schnellen Handeln. Das Wasser müsse endlich entprivatisiert werden. Sie erklärt: »Bei uns in Maipú haben große Unternehmen eigene Quellen, wir müssen dafür sorgen, dass die Versorgung der Bevölkerung an erster Stelle kommt.« Das bedeutet, die Unternehmen zu enteignen und ihren Wasserverbrauch genauer zu kontrollieren.

Delgado stockt und sagt: »Ich habe Zweifel, dass die Regierung so handeln wird.« Die soziale Herkunft vieler Regierungsmitglieder würde das verhindern, so Delgado. Sowohl Boric als auch ein Großteil der Regierungsmitglieder hat in privaten Schulen studiert und kommt aus gut situierten Haushalten. Delgado fragt: »Wer garantiert, dass sich Minister*innen gegen ihren Onkel, Cousin oder Bruder stellen werden?«

Unternehmensverbände machen Druck

In Chile ist die Zugehörigkeit zur Elite noch immer eine Frage der Geburt. Und manche haben Angst, dieses Privileg zu verlieren. Schon jetzt machen Unternehmensverbände Druck auf die neue Regierung, die Reformen sollen nicht zu tief ausfallen.

Nach einer Sitzung mit einem mächtigen und stramm rechten Lastwagenverband kam die neue Innenministerin Izkia Siches von ihrer strikten Position ab, kategorisch den Einsatz vom Militär gegen illegalisierte Migrant*innen oder militante indigene Mapuche auszuschließen. Derzeit herrscht an der Grenze zu Peru und Bolivien sowie im Gebiet der Mapuche ein Ausnahmezustand, bei dem das Militär zur »Aufrechterhaltung der Sicherheit« eingesetzt wird.

Gerade in der Beziehung zu den Indigenen hatte Boric eine neue Ära des Respekts angekündigt, was auch eine Rückgabe gestohlener Ländereien beinhaltet. Doch dort stößt der neue Präsident auf knallharte wirtschaftliche Interessen.

Noch ist unklar, wie der Präsident auf den Druck reagieren wird. Am Freitag wurde erst einmal gefeiert. Präsidenten und Persönlichkeiten aus der ganzen Welt nahmen an der Amtseinführung in Valparaíso teil, auch der spanische König Felipe VI. Delgado war als Parlamentarierin anwesend. Nicht eingeladen waren hingegen wichtige Unternehmensvertreter - wie Juan Sútil, Präsident der Vereinigung des Handels und der Produktion.

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