Geflohen, um zu leben

Über die Situation von Geflüchteten aus der Ukraine - und aus anderen Ländern

  • Lesedauer: 15 Min.

Sie sind aus Myanmar und Südsudan, aus Syrien und Afghanistan geflohen – und nun auch aus der Ukraine: Seit Jahren steigt die Zahl der Menschen, die zur Flucht gezwungen sind. Mitte vorigen Jahres gab es mehr als 26 Millionen Geflüchtete, berichtet das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR). Auch wenn das Land nicht mehr in den Schlagzeilen ist: Die mit Abstand meisten Geflüchteten kommen weiterhin aus Syrien: Mehr als 6,7 Millionen Männer, Frauen und Kinder mussten im Ausland Schutz suchen.

Oft herrscht in den Herkunftsländern Krieg und Gewalt – wie jetzt in der Ukraine. Innerhalb kurzer Zeit haben mehr als 2,5 Millionen Menschen das Land verlassen, meist sind es Frauen und Kinder. Die Zahl der Geflüchteten steigt täglich stark an. Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen das Land nicht verlassen, denn der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat wegen des russischen Angriffs eine allgemeine Mobilmachung angeordnet. Niemand weiß, wie viele sich ebenfalls in Sicherheit bringen wollen, es gibt nur einzelne Berichte über Männer, die an der Grenze festgenommen wurden.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Die mit Abstand meisten Menschen aus der Ukraine sind nach Polen geflüchtet – dort seien bis Ende dieser Woche mehr als 1,5 Millionen Personen angekommen, so das UN-Flüchtlingshilfswerk. Die Organisation geht davon aus, dass ein Großteil in Polen bleiben will. In Deutschland sind in dieser Woche täglich Tausende Menschen angekommen, die meisten in Berlin. Viele Geflüchtete werden inzwischen in andere Bundesländer gebracht. Bis Donnerstag registrierten die Behörden laut Bundesinnenministerium in Deutschland insgesamt 95 913 Geflüchtete. Die tatsächliche Zahl könnte wesentlich höher liegen, da es keine festen Grenzkontrollen gibt, sagte ein Ministeriumssprecher. Viele werden privat untergebracht. Doch auch wenn in Deutschland doppelt oder dreimal so viele Menschen angekommen wären: Es wäre immer noch nur ein Bruchteil von allen aus der Ukraine Geflüchteten.

Die Hilfsbereitschaft vieler Menschen hierzulande ist groß. Auch die Politik ist diesmal großzügiger als gegenüber anderen Geflüchteten. So dürfen alle Menschen, die vor dem 24. Februar nachweisbar in der Ukraine gelebt haben, visafrei nach Deutschland einreisen. Zwar soll ihnen unbürokratisch geholfen werden, doch selbst hier gibt es Tücken. Wir haben einen Blick geworfen auf die Situation von Geflüchteten – aus der Ukraine und aus anderen Ländern, über die derzeit kaum noch berichtet wird. Etwa Menschen in Griechenland: Sind sie immer noch zu Tausenden in Lagern zusammengepfercht? Und wie ergeht es Ausreisewilligen in Russland? Eva Roth

Polen: Hilfe und Repression

Die Bilder aus den Grenzstädten zwischen Polen und der Ukraine sind überwältigend. Täglich kommen Tausende Menschen über die Grenzübergänge. Am Anfang überwiegend aus den westlichen Regionen der Ukraine. Mittlerweile auch aus den zerbombten Städten wie Charkiv und Mariupol. Viele Flüchtende, die vor Fernsehkameras befragt werden, weinen und wissen nicht, was sie sagen sollen. Zu groß ist der Schock. Die meisten Menschen fliehen in das westliche Nachbarland Polen. Seit Kriegsbeginn sind hier über 1,5 Millionen Menschen angekommen. Wie viele letztlich bleiben, ist noch unklar. Der polnische Grenzschutz gibt an, keine Statistiken oder Schätzungen darüber zu haben, wie viele Menschen Polen über Schengengrenzen wieder verlassen hätten.

Schon 2014, nach der Annexion der Krim durch Russland, hatte man sich in Polen auf Hunderttausende Geflüchtete eingestellt. Doch wohl kaum jemand hat damit gerechnet, dass jetzt so vielen Menschen in so kurzer Zeit kommen. »Es gibt eine riesige Welle der Solidarität in Polen«, erzählt Paweł Matusz dem »nd«. Er engagiert sich im Migrantenbeirat Leipzig und hat enge Verbindungen nach Polen. Viele Geflüchtete aus der Ukraine kämen bei Pol*innen zu Hause unter. Der Staat biete nicht ausreichend Unterstützung an, kritisiert Matusz. »Von Anfang an wurde alles von NGOs und Freiwilligen gestaltet. Und das ist eine riesige zivilgesellschaftliche Herausforderung.«

Insbesondere am Warschauer West- und Hauptbahnhof, wo viele Menschen ankämen, sei alles von Freiwilligen organisiert. NGOs berichteten: »Wir sind richtig am Limit.« Und auch die »normalen Bürger*innen« seien erschöpft. Erst sehr langsam würden die Helfer*innen finanziell von Kommunen und der Regierung unerstützt. Lange hätte man Verantwortlichkeiten hin- und hergeschoben. Am Donnerstag hatte der polnische Präsident Andrzej Duda (PiS) an die USA appelliert, Geflüchtete aus der Ukraine aufzunehmen. Vizepräsidentin Kamala Harris wolle sich das »anschauen«, verwies aber darauf, dass ein Großteil der Menschen aus der Ukraine in Europa bleiben wolle.

Ein weiteres Problem in Polen sei, dass es sich hier um eine sehr »selektive« Hilfe handele, sagt Matusz. Hilfsorganisationen berichten von Menschen mit türkischer oder indischer Staatsangehörigkeit, die nicht über die polnische Grenze gelassen wurden, von ihren Familien getrennt wurden und andere Fluchtwege suchen mussten. Die polnische Investigativplattform »Okopress« berichtete sogar von Angriffen auf einzelne indische Geflüchtete in der Grenzstadt Przemyśl. Die Polizei dementierte das. Rund 400 Kilometer weiter nördlich, an der Grenze zu Belarus, kam es jedenfalls zu ähnlichen Szenen, angeführt von »Terytorialsi«, eine Art nationalistische Freiwilligenarmee.

An dieser Grenze hat sich die Situation für Geflüchtete eher verschlechtert, berichten Aktivist*innen der Grupa Granica dem »nd«. In Brusgi auf der belarussischen Seite warteten derzeit rund 500 Menschen. Viele nutzten das wärmere Wetter, um die Grenze zu passieren. »Wir haben fast jeden Tag Interventionen«, sagt Zofia (Name geändert) dem »nd«. Die Menschen kämen aktuell überwiegend aus afrikanischen Ländern, Sudan, Kamerun, Kongo, Eritrea, und Jemen und weniger aus Afghanistan und Syrien, wie noch im Herbst. Inzwischen seien nur noch wenige Freiwillige vor Ort, dafür seien die Repressionen stärker geworden. »Grenzschutz und Polizei werden professioneller, sie fangen uns und die Geflüchteten«, so Zofia.

Der polnische Grenzschutz verhält sich völlig unterschiedlich gegenüber geflüchteten Ukrainer*innen und Menschen, die über die belarussische Grenze aus afrikanischen Ländern oder Afghanistan fliehen. Auf seiner Internetseite heißt er die einen willkommen und stellt die anderen als Gewalttäter dar. Gegen Geflüchtete aus Afrika und Nahost will sich das EU-Land Polen bald mit einer Mauer abschotten. Ulrike Wagener

Griechenland: Eine gänzlich andere Situation

Während Ukrainer derzeit mit offenen Armen empfangen werden, ist die Lage im Süden der EU eine gänzlich andere. Das öffentliche Interesse ist zugleich stark gesunken. Vor zwei Jahren hatte das Zeltlager bei Moria auf der Insel Lesbos für Schlagzeilen gesorgt, wo zeitweise 20 000 Menschen zusammengepfercht hausten – in einem Lager, das für 2800 Flüchtlinge ausgelegt war. Am griechisch-türkischen Grenzfluss Evros waren im selben Jahr Tausende Menschen im Niemandsland gestrandet, nachdem Ankara die Grenze geöffnet hatte. Geflüchtete stießen auf militante griechische Grenzschützer, die Weisung hatten, sie abzuwehren wie eine Invasorenarmee. Nicht mit scharfem Schuss, dafür Hunden, Blendgranaten und Gewalt.

Die EU hat erreicht, was EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen damals bei einem Besuch in Griechenland in die Erwartung kleidete, das Land sei der »europäische Schild« gegen unkontrollierte Zuwanderung. Die Zahlen der Geflüchteten in den Hotspots auf den Inseln Lesbos, Chios, Samos, Kos und Leros sinken seither kontinuierlich. Rund 3000 sollen es hier nach griechischen Angaben noch sein, die auf Asyl hoffen – gegenüber 40 000 vor zwei Jahren. Viele wurden aufs Festland gebracht, um ihre Verfahren abzuwickeln.

Zugleich kamen immer weniger. Die Lager wurden zu rigide geführten Einrichtungen; freiwillige Helfer wie auch Anwälte haben es schwer, Zugang zu erhalten. Mit der Modernisierung der Hotspots sei ein repressives System unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit geschaffen worden, erklärt Karl Kopp, Leiter der Europa-Abteilung von Pro Asyl. Griechenland lehne Asylanträge unter Berufung auf einen angeblich sicheren Drittstaat ab und verweise die Menschen zurück in die Türkei. Zwar werden seit zwei Jahren wegen der Coronapandemie keine Menschen abgeschoben, aber die Betroffenen befänden sich in einem »rechtlichen Limbo«, so Kopp. Sie seien zu einem Leben auf dem Abstellgleis gezwungen und von Abschiebung in die Türkei bedroht. Die Anzahl der Asylanträge, die von der griechischen Asylbehörde als unzulässig abgelehnt wurde, habe sich 2021 im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt.

Doch auch anerkannte Asylbewerber sind nicht aus dem Schneider, wie Cornelia Ernst erfuhr, die sich als EU-Abgeordnete mehrmals ein Bild vor Ort machte. Sie würden häufig aus den Lagern in die Obdachlosigkeit entlassen, so die Linke-Politikerin gegenüber dem »nd«. Das System Abwehr funktioniert. Was nicht heißt, dass keine Flüchtlinge mehr kämen. Rund 15 000 Geflüchtete registrierte die UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR seit Jahresbeginn an der Südgrenze der EU – in Spanien, Italien und Griechenland. Auf Griechenland entfielen 1037 Menschen. Erst im Februar wurden am Grenzfluss Evros 19 spärlich bekleidete Leichen aufgefunden. Pro Asyl versucht derzeit, eine juristische Aufarbeitung zu erreichen. Auch auf dem Meer sterben weiter Flüchtlinge. Die griechische Küstenwache erregte jüngst Aufmerksamkeit wegen des Vorwurfes, angelandete Geflüchtete zurück aufs Meer geschafft und ins Wasser geworfen zu haben. Zwei Männer seien ertrunken. Uwe Kalbe

Leipzig: Hilfe bei der Wohnungssuche

Eine Frau mit Hund im Leipziger Stadtteil Connewitz bietet ein Zimmer für zwei Personen; Kinder seien willkommen. Zwei 34-Jährige stellen einen Raum zur Verfügung; ein Doppelbett sei vorhanden. Eine Studenten-WG bietet das Zimmer eines Mitbewohners an, der gerade in Mexiko studiert. Eine Familie mit drei Kindern von zwei bis acht Jahren teilt mit: »Wir würden es lieben, unsere Wohnung zu teilen.« Und ein Pärchen bietet gar das Sofa im Wohnzimmer an – für eine »rasche Unterbringung«.

Die Inserate finden sich auf einer Kontaktbörse, die das Linxxnet eingerichtet hat. Das Abgeordnetenbüro der Leipziger Linkspolitiker Jule Nagel und Marco Böhme steht ohnehin offen für viele; hier treffen sich Mieter- und Stadtteilgruppen, eine Gefangenengewerkschaft, eine landwirtschaftliche Kooperative. Seit einigen Tagen engagiert sich das Büro auch als Wohnungsvermittler und Onlinekontaktbörse für Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine flüchten müssen. Im ersten Inserat vom 26. Februar bietet eine Familie an, man könne »kurzfristig ein Zimmer räumen« für eine kleine Familie: »Sprechen gut Englisch«, heißt es, »ansonsten auch mit Händen und Füßen.«

Die Frage von Unterkünften, sagt Jule Nagel, sei derzeit »das Nummer-eins-Problem« im Umgang mit den Menschen, die aus der Ukraine ankommen. Allein in Leipzig, das durch eine Städtepartnerschaft mit der ukrainischen Hauptstadt Kiew verbunden ist, rechnet man mittelfristig mit bis zu 100 000 Flüchtlingen. Wie viele bisher angekommen sind, ist unklar. Klar ist, dass ihre Unterbringung enorme Schwierigkeiten bereitet und Freistaat und Stadt laut Nagels Einschätzung überfordert sind. Das Land betreibt am Leipziger Norden nahe dem Messegelände eine Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete, die aber faktisch bereits ausgelastet ist, wie Regina Kraushaar, Präsidentin der zuständigen Landesdirektion, einräumte. In von der Stadt betriebenen Gemeinschaftsunterkünften für Asylbewerber wiederum seien, sagt Nagel, mehrere hundert Plätze frei, würden aber bisher nicht genutzt. Nagel schiebt das auf »althergebrachte Strukturen« und offene Fragen zu Geld und Verantwortlichkeiten. Die Behörden, sagt sie, »hinken den Notwendigkeiten in Bezug auf Unterbringung, Versorgung und Registrierung hinterher«.

Dass Ankommende dennoch ein Bett und ein Dach über dem Kopf bekommen, liege am Engagement von Bürgern: »Vieles fängt derzeit wieder einmal die großartige Zivilgesellschaft auf«, sagt die Abgeordnete. Das zeigt beispielsweise die Kontaktbörse, die ein Büromitarbeiter schnell programmiert hat. Dort gingen bisher fast 800 Angebote für Zimmer oder Wohnungen ein. Die Zahl der erfolgreichen Vermittlungen sei freilich »schwer bezifferbar«, räumt Nagel ein. Das Linxxnet hat zudem eine Hotline eingerichtet, die täglich von 8 bis 22 Uhr besetzt ist. Das spricht sich offenbar herum: Teils riefen Menschen bereits von der polnischen Grenze aus an.

Die Stadt fährt derweil ihr Angebot ebenfalls hoch. Seit Donnerstag gibt es im Rathaus ein »Ankommenszentrum« für Flüchtlinge, das am ersten Tag überrannt wurde. Die Stadtspitze hat zudem ein »Sonderbudget« von neun Millionen Euro für schnelle und unbürokratische Hilfe vorgeschlagen, über das der Stadtrat am Dienstag abstimmen soll; allein 4,5 Millionen Euro sind für die Unterbringung der Flüchtlinge vorgesehen. Das Sozialministerium hat derweil ein Informationsportal für geflüchtete Ukrainer im Internet freigeschaltet – zunächst nur auf Deutsch. Es solle »schnellstmöglich« ins Ukrainische übersetzt werden, heißt es. Hendrik Lasch

EU-Regelungen: Die »Massenzustromrichtlinie«

»Wir wollen Leben retten. Das hängt nicht vom Pass ab«, sagte Innenministerin Nancy Faeser (SPD) in der vergangenen Woche über die Menschen, die aktuell vor dem Krieg in der Ukraine nach Deutschland fliehen. Wie das in Zukunft umgesetzt wird, ist noch nicht klar. Zahlreiche Menschen berichten von Rassismus auf der Flucht. »Das zieht sich durch: An den Grenzübertritten in der Ukraine gibt es zwei verschiedene Schlangen, auf dem Weg werden Schwarze Menschen aufgefordert, die Busse zu verlassen und auch in Berlin gibt es Helfer*innen, die ausdrücklich keine Afrikaner*innen aufnehmen wollen«, sagt Nora Brezger vom Flüchtlingsrat Berlin dem »nd«.

In der Ukraine lebten zu Beginn des Krieges rund 300 000 Menschen ausländischer Staatsangehörigkeit unbefristet, viele davon aus Russland und anderen postsowjetischen Staaten. Rund 150 000 Menschen lebten vorübergehend in dem Land, darunter ausländische Studierende aus Ländern wie Indien, Marokko und Nigeria sowie Zeitarbeitskräfte, etwa aus der Türkei. Außerdem etwa 4900 Flüchtlinge und Asylsuchende – wobei Expert*innen vermuten, dass es wegen der Evakuierungen aus Afghanistan mehr waren. Diese Menschen müssen nun innerhalb kürzester Zeit ein zweites Mal fliehen. Außerdem leben in der Ukraine rund 400 000 Sinti*zze und Romn*ja, darunter 35 000 Staatenlose. Auch hier gibt es bereits Berichte, dass Angehörigen dieser Minderheit Unterstützung in Nachbarländern verwehrt wurde.

Nun hat die Europäische Union auf die großen Fluchtbewegungen aus der Ukraine ungewohnt schnell und einig reagiert. Zum ersten Mal in der Geschichte wird die sogenannte »Massenzustromrichtlinie« angewendet, die nach den Jugoslawienkriegen verabschiedet wurde. Ukrainische Staatsbürger*innen sollen unbürokratisch in der EU Schutz erhalten können. Außerdem Drittstaatsangehörige mit unbefristetem Aufenthaltstitel, die nicht in der Lage sind, sicher und dauerhaft in ihr Herkunftsland zurückzukehren. EU-Staaten können die Richtlinie auch für Staatenlose und Staatsangehörige anderer Drittländer anwenden, die sich rechtmäßig in der Ukraine aufgehalten haben, und nicht sicher und dauerhaft in ihr Herkunftsland zurückzukehren können.

Wie die Mitgliedsstaaten diese Richtlinie interpretieren und anwenden werden, ist noch nicht klar. Unabhängig davon stellt sich die Frage, was mit Menschen passiert, die sich nicht »rechtmäßig« in der Ukraine aufhielten und wie geprüft werden soll, ob die Menschen in der Lage sind »sicher und dauerhaft« in ihr Herkunftsland zurückzukehren.

Brezger sieht noch ein Problem: Derzeit gilt für alle Menschen, die vor dem 24. Februar nachweisbar in der Ukraine gelebt haben, die visafreie Einreise nach Deutschland. Damit ist verbunden, dass sich auch Menschen aus Drittstaaten bis zum 23. Mai ohne Aufenthaltstitel in der Bundesrepublik aufhalten dürfen. »Allerdings scheint das nicht zu klappen, wenn Menschen, denen die Einreise über Polen verwehrt wurde, über Rumänien oder die Türkei auf dem Luftweg einreisen wollen«, so Brezger. Viele Menschen, die an anderen Grenzübergängen abgewiesen wurden, steckten nun in der Türkei fest, etwa indische Staatsbürger. Ulrike Wagener

Russland: Hilfe für Oppositionelle?

Seit Beginn der russischen Invasion der Ukraine wollen auch in Russland viele einfach nur noch weg. Flüge in Länder, in die man mit russischem Pass ohne Visum einreisen kann, sind ausgebucht, die Züge von Sankt Petersburg nach Helsinki ebenso. Nach Georgien sind in den ersten Tagen seit Beginn des Krieges bereits über 20 000 Russ*innen eingereist, wie die dortige Regierung angibt.

Gründe für eine Flucht aus Russland gibt es derzeit viele. Zensur und Repressionen haben extreme Ausmaße angenommen. Wer öffentlich dem Standpunkt des Kreml widerspricht und das Wort »Krieg« statt der offiziellen Bezeichnung »Spezialoperation« verwendet, kann bis zu 15 Jahre ins Gefängnis kommen. Für einen Aufruf zum Protest gibt es bis zu fünf Jahre Haft. Viele fürchten außerdem, dass das Kriegsrecht verhängt werden könnte und Männer im wehrfähigen Alter das Land nicht mehr verlassen können – oder dass die Grenzen ganz geschlossen werden.

In den sozialen Medien posten Gegner*innen des Krieges Fotos von den Ausreisestempeln in ihren Pässen. Auch einige Künstler*innen haben Putins Regime in den letzten Tagen den Rücken gekehrt und das Land verlassen, darunter der Regisseur Kantemir Balagow. »In einem einzigen Augenblick wurde uns unsere Zukunft geraubt«, schrieb er auf Instagram.

»Im Moment sieht es so aus, als würde Russland gerade zu einem zweiten Nordkorea werden«, sagt Artjom Petrow (Name geändert) zu »nd«. Er arbeitet im russischen Büro einer europäischen Softwarefirma. Auch er will Russland verlassen und in Zukunft im Hauptsitz des Unternehmens arbeiten, in der EU. »Die Menschen in Russland, die noch klar denken können, haben Angst. Es gibt keinen einfachen und legalen Weg, etwas an der Situation und an der Regierung zu ändern. Also ist das Einzige, was ihnen bleibt, um sich und ihre Familien zu schützen, das Land zu verlassen.« Auch die dramatische Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage aufgrund der Sanktionen trifft nicht nur diejenigen, die für den Angriff auf die Ukraine verantwortlich sind oder diesen unterstützen. »Die Preise steigen immens, auch für die Grundversorgung mit Lebensmitteln und Medikamenten«, so Petrow. »Und das Geld, was man verdient, verwandelt sich in Bonbonpapier ohne Wert.«

Viele sehen für sich keine Zukunft mehr in diesem Russland, aber nicht alle haben das nötige Geld oder die passenden Visa, um zu emigrieren. Für den Zug nach Helsinki zum Beispiel braucht man nicht nur ein Schengen-Visum, sondern auch eine Corona-Impfung mit einem in der EU zugelassenen Impfstoff. Deshalb sind auf dieser Strecke vor allem Menschen mit Wohnsitz in der EU unterwegs. Oppositionelle Aktivist*innen, Journalist*innen und Künstler*innen haben die Möglichkeit, als politisch Verfolgte Asyl in der EU zu beantragen. Beschleunigte Asylverfahren oder andere Formen der Unterstützung sind für sie aber nach Angaben des Bundesministeriums des Innern nicht geplant.

Petrow will ein paar Jahre im Ausland bleiben und sehen, wie sich die Situation weiter entwickelt. Ob er wieder nach Russland zurückkehren wird, weiß er noch nicht. »Ich will einfach ein gutes Leben für mich und meine zukünftige Familie, für meine Kinder, falls ich welche haben sollte.« Er hofft, dass die Menschen im Ausland verstehen, dass nicht alle Russ*innen für diesen Krieg sind. Sie sollten nicht »jeden Russen hassen, nur weil er auf der falschen Seite geboren wurde«. Norma Schneider

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