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Gewalteskalation trotz Waffenruhe
Neues Kapitel im Konflikt zwischen der neuen syrischen Regierung und den Minderheiten im Land
In der südsyrischen Provinz Al-Suweida gehen die Kämpfe weiter. Seit Dienstag seien rund 150 Menschen getötet worden, teilte die in Londen ansässige Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit und berichtete auch von »Schnell-Hinrichtungen« durch die Regierungstruppen und die mit ihnen verbündeten Kämpfer. Die Truppen hätten in mehreren Dörfern Eigentum zerstört, gestohlen und Feuer gelegt. Aus Angst vor Beschuss und Diebstahl hätten die meisten Ladenbesitzer ihre Geschäfte geschlossen. Weil Straßen gesperrt seien, gebe es ernsthafte Sorgen wegen einer Knappheit an Lebensmitteln und auch Medikamenten.
Auch Israel mischt in dem innersyrischen Konflikt mit. So hat die Armee nach eigenen Angaben den Eingang zum Militärhauptquartier der syrischen Führung im Raum Damaskus angegriffen.
Islamisten bemühen sich um Rebranding
Der Sturz des blutigen Assad-Regimes Ende 2024 gab den Syrern Hoffnung auf echten Frieden. Doch in der Praxis blieb Gewalt ein Mittel zur Problemlösung. Das ist nicht verwunderlich, hat doch der neue Staatschef Ahmad Al-Scharaa seine Karriere unter anderem als Organisator von Terroranschlägen begonnen und Konflikte mit Andersdenkenden vor seinem Regierungsantritt stets so gelöst. Seine dschihadistische Formation Haiat Tahrir Al-Scham (HTS) hatte ihre Wurzeln in den Terrornetzwerken von Al-Qaida und dem Islamischen Staat (IS). Das Denken solcher Akteure basiert weiterhin nicht nur auf der völligen Ablehnung von »Ungläubigen«, sondern auch von abweichenden Strömungen innerhalb des Islam.
Es handelt sich eher um ein »Rebranding«, wenn sich die Spitze der HTS zuletzt mit gemäßigten Tönen um internationale Anerkennung bemühte. Al-Scharaa verkündete schon vor Assads Sturz den Abbruch der Beziehungen zu Al-Qaida und dem IS, nun hat er auch seine Kampfmontur gegen Anzug und Krawatte getauscht. Um im Westen Anklang zu finden, sprach er von Demokratie und schüttelte westliche Hände.
Wichtig für den selbsternannten Präsidenten war dabei die Aufhebung von Sanktionen, die Streichung der HTS von Terrorlisten und die Aufhebung eines Kopfgeldes auf ihn persönlich. Dieser Schwenk brachte ihm in Syrien den Spitznamen »Chamäleon« ein.
Seit Assads Sturz herrscht Sorge vor Verfolgung
Viele Syrer machten sich trotz des Jubels über Assads Sturz von Beginn an Sorgen, wie sich die HTS-Regierung, die sich zum sunnitischen Islam bekennt, verhalten wird. Sorgen, die sich als berechtigt erwiesen, denn kurz danach kam es schon zu Massakern an Orten, die von religiösen Minderheiten bewohnt werden. Etwa im März, als bei Angriffen von Regierungstruppen an der Mittelmeerküste mehr als 1700 Zivilisten starben. Die meisten waren Angehörige der alawitischen Gemeinschaft, einer Untergruppe des Islam, der auch Assad angehörte.
Im April kam es dann bei Damaskus zu Zusammenstößen der lokalen drusischen Gemeinschaft mit Regierungstruppen, wieder mit Dutzenden Toten. In beiden Fällen schlossen sich der Armee Kämpfer ohne Uniform oder Kennzeichnung an. Die Drusen sind eine eigenständige konfessionelle Gruppe, deren Mitglieder neben Syrien auch im Libanon, in Jordanien und in Israel leben. In Syrien sind es geschätzt 700 000 Drusen.
Am 13. Juli kam es in der Provinz Al-Suweida im Süden Syriens zu neuen Zusammenstößen zwischen Drusen und arabisch-sunnitischen Beduinenstämmen. Damaskus entsandte Regierungstruppen, um die Kämpfe zu beenden. Die überwiegend drusischen Bewohner des Kampfgebietes setzten zunächst Hoffnung in eine Beruhigung. Doch dann tauchten immer mehr Berichte über Hinrichtungen, Plünderungen und Brandstiftungen durch Regierungstruppen mit Drusen als Opfer auf. Tausende von ihnen flohen.
Israel gibt sich als Beschützer der Drusen
Laut der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte wurden in einem Gästehaus der Stadt Al-Suweida zwölf Zivilisten hingerichtet. Das ist nur einer von vielen Vorfällen. Der syrische Verteidigungsminister verkündete am Dienstag einen »vollständigen Waffenstillstand«. Einheimische berichten, dass das kaum Auswirkungen auf die Lage vor Ort hatte.
Die Unruheprovinz Al-Suweida liegt unweit von Israel. Premier Netanjahu erklärte am 15. Juli, seiner Armee befohlen zu haben, die dort einmarschierten Truppen zur Unterstützung der Drusen anzugreifen.
In Israel sind die Drusen ein fester Bestandteil der Gesellschaft. Doch einige Analysten sehen den Schutz der Drusen eher als israelischen Vorwand zum Erreichen eigener militärischer Ziele. Seit Assads Sturz hatte Israel seine Unterstützung für die Drusen erklärt, syrisches Gebiet engrgriffen und das Militärpotential des Nachbarn aktiv geschwächt. Israelische Truppen kontrollieren bereits syrisches Territorium.
Dabei vollzieht sich die aktuelle Eskalation vor dem Hintergrund syrisch-israelischer Verhandlungen. Theoretisch könnte am Ende die syrische Anerkennung Israels im Rahmen der sogenannten Abraham-Abkommen stehen. Dabei blieben jedoch Grundsatzfragen ungelöst, wie die bereits 1967 erfolgte Besetzung der strategisch wichtigen syrischen Golanhöhen durch Israel. Während die Regierung Assads dazu schwieg, ist damit bei Al-Scharaa nicht zu rechnen. Er stammt selbst aus der Region. Israel dagegen zeigt bei jeder Gelegenheit, dass dieses Thema aus eigener Sicht abgeschlossen ist.
Gewalteskalation ist auch ein Signal an die Kurden
Gleichzeitig ist die Eskalation der Gewalt gegen Drusen in den Augen vieler ein Signal an die Kurden, die knapp 30 Prozent Syriens kontrollieren. Sie schlossen noch im März ein Abkommen mit den neuen Behörden in Damaskus über die Integration ihrer Kämpfer in die nationalen Streitkräfte. In der Praxis ist dieser Prozess außerordentlich schwierig, die Kurden wollen eine Autonomie und Sicherheitsgarantien. Israel, das den Kurden zuvor Schutz zugesagt hatte, sendet mit seinem Eingreifen Damaskus ein Signal, dass es notfalls zum Schutz der Kurden ebenfalls zuschlagen würde.
Letztlich werden die Übergangspräsident Al-Scharaa unterstellten dschihadistischen Gruppen ein Haupthindernis für einen dauerhaften Frieden zwischen Syrien und Israel bleiben. Auch ihr rücksichtsloses Vorgehen gegen Minderheiten im Land wird durch ihr »Rebranding« nicht geändert, denn die Menschen und ihre Einstellung bleiben die gleichen. So wird der aktuelle Gewaltausbruch in Südsyrien wahrscheinlich nicht der letzte in der nahen Zukunft des Landes bleiben.
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