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Lasst uns in Frieden (15): Was der Krieg uns raubt
In seinem Gedicht »Oder weiterleben« dokumentiert Erich Fried, wie der Militarismus uns die Menschlichkeit nimmt
Man könnte meinen, Erich Fried ginge es in seinem Gedicht »Oder weiterleben« (1968) tatsächlich um Hunde. Schließlich ist die Rede von jenen, die »scharren nach Fraß« und »knabbern an Knochen und Leder«. Man denkt an umherziehende, abgemagerte und überdies geschundene Streuner. Sie kamen vor dem Krieg nicht raus aus den später umkämpften Straßen und danach auch nicht, sind mit »geschmolzenen Augäpfeln« dazu verdonnert, »in den Resten der Städte« und zwischen den »verfaulenden Leichen« vor sich hin zu vegetieren. »Sie bleiben hocken« und vermögen »nur ihr Kratzen und Stochern« kundzugeben. Doch das Poem lässt offen, wer mit »sie« faktisch gemeint ist. Lediglich dass es sich »nicht [um] Wölfe« handelt, wird betont.
Womöglich und sogar wahrscheinlich verstecken sich hinter dem Pronomen Opfer, Hinterbliebene, Invalide - alle, die des Glücks und der Zukunft ihrer Existenz beraubt wurden. Schlimmer noch: Menschen, die im Kampf um das nackte Überleben, schließlich zu Tieren wurden. Letztlich macht es aber kaum einen Unterschied. Indem Fried nichts Näheres dazu angibt, verdeutlicht er die Anonymität, die bleibt, sobald das Individuum gebrochen wird.
Die Mägen der - denkbarerweise - Menschen sind jedenfalls leer, ihr Geist sowieso, haben sie doch im Schatten der Zerstörung längst »vergessen was Liebe ist«. Nicht einmal ein Verdämmern, ein erlösendes Abschiednehmen billigt ihnen das raue und unbarmherzige Schicksal zu. Es bleiben einzig die »kürzer werdenden Pausen / von Schlaf zu Schlaf« sowie die Erkenntnis, »nirgends das alte Land« je wiedersehen zu können.
Erich Fried, dieser faszinierende Dichter, der einerseits so mutig die politischen Verhältnisse seiner Zeit anzuprangern wusste, und der andererseits so zart und weise über die Liebe dichten konnte - hier verleiht er seinen momenthaften Zweifeln am Sinn der Menschheit Ausdruck, der er, auf sein ganzes Denken und Handeln bezogen, bis zuletzt so viel Vertrauen und Bedeutsamkeit entgegenbrachte. Die Agonie dieses Gedichts wirkt, und zwar bar jedweder Hoffnung. Warum? Weil sie kein Aber zulässt.
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