Töten als Befreiung

Zur Dokumentation »Safari« des österreichischen Regisseurs Ulrich Seidl ist jetzt ein Bildband erschienen

Das getötete Tier muss herhalten für die Macht- und Bindungsgelüste seines Erlegers, des Großwildjägers in Seidls Film »Safari« und im gleichnamigen Bildband.
Das getötete Tier muss herhalten für die Macht- und Bindungsgelüste seines Erlegers, des Großwildjägers in Seidls Film »Safari« und im gleichnamigen Bildband.

Bei einem Film des österreichischen Regisseurs Ulrich Seidl weiß der Betrachter in etwa, was ihn erwartet. Umso erstaunlicher ist, mit welcher Vielfalt an Themen und Herangehensweisen Seidl in jedem seiner Filme die Mechanismen von Ausbeutungsverhältnissen bloß legt und analysiert, was die Reduzierung von Menschen auf ökonomische Einheiten und der Ersatz zwischenmenschlicher Bindungen durch reine Ware-Geld-Beziehungen mit und in der Gesellschaft anrichten. Bereits fünf Jahre alt ist sein Film »Safari«, in dem er deutsche und österreichische Jagdtouristen auf Trophäenjagd in die afrikanische Savanne begleitet hat. Jetzt (erst) ist der Bildband zum Film erschienen.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Auf den ersten Blick scheint die Sache für den aufgeklärten Zeitgenossen völlig klar: die Jagd auf Tiere und noch dazu die Großwildjagd in Afrika sind verurteilenswerte Tätigkeiten, die der gesellschaftlichen Ächtung anheimfallen sollten. Aber warum nur schaut sich der fünfjährige Sohn des Autors dieser Zeilen so fasziniert den Bildband an? Nicht nur einmal, sondern immer wieder blättert er durch die Aufnahmen von Jägern, die vor den von ihnen erlegten exotischen Tieren posieren und fragt nach Details. Die Bewunderung der fotografischen Leistung Seidls und seines Kameramanns Wolfgang Thaler mit seinen sorgfältig komponierten und kadrierten Tableaus kann es nicht sein, dafür ist der Sohn zu klein. Stimmt es also doch, dass der Jagdtrieb genetisch im Mann angelegt ist und macht sich dies bereits beim Fünfjährigen bemerkbar? Von Vorurteilen lässt sich Seidl allerdings nicht leiten, sein distanzierter Blick auf das Geschehen nimmt keine Moral vorweg. Das Infragestellen vermeintlich fester Gewissheiten ist Seidls Arbeitsgrundlage, und sein Urteil muss sich der Zuschauer schon selbst bilden.

Seidls Filme stehen von jeher für das Ausleuchten der dunklen Seiten der menschlichen (der österreichischen) Seele. Wobei 'dunkle Seite' auch schon wieder eine Vorverurteilung und abhängig vom eigenen Standpunkt ist. Was, wenn Seidl gar keinen Blick in die Abgründe des Daseins wirft, wie Rezensenten seiner Filme gemeinhin kolportieren, sondern er vielmehr wachen Blicks der unterrepräsentierten Mehrheit eine Stimme gibt? Auf nichts anderem beruht auch das Geschäftsmodell der Privatfernsehsender, die umgekehrt allerdings nie einen Seidl-Film ins Programm nehmen würden, denn im Gegensatz zu ihnen nimmt Seidl seine Protagonisten ernst und geradezu zärtlich in den Arm, bildlich gesprochen.

Vielleicht besteht die Faszination in Filmen wie »Hundstage« (2000) darin, dass Seidl uns ein Panoptikum an Menschen aus der Mitte der Gesellschaft zeigt, da wir doch stets annehmen, wir wären diese Mitte. Leider aber feststellen müssen, dass die Blase, in der wir uns - gebildet und reflektiert - bewegen, lediglich einen kleinen Ausschnitt der Gesellschaft darstellt, die zwar den Diskurs bestimmt, aber womöglich gar nicht repräsentativ für die Mehrheit der Menschen ist. Indem wir uns über Leute, für die ihr Haustier Ersatz für menschliche Bindungen ist (»Tierische Liebe«, 1995, der Film, mit dem Seidl bekannt wurde und sozusagen der Antipode zu »Safari«) lustig machen - insgeheim natürlich, denn wir sind ja grundsätzlich tolerant! - wehren wir uns gegen die aufschlussreiche Erkenntnis, dass Seidls Protagonisten die eigentlichen Konstituanten unserer Schicksalsgemeinschaft namens Gesellschaft sind.

In »Safari« erforscht Seidl ein Milieu, das ihm fremd ist, fremd sein muss, denn das ist die Voraussetzung, damit es ihn überhaupt interessiert. Mit dem Film knüpft er unmittelbar an seine Dokumentation »Im Keller« (2014) an, in der er Menschen porträtiert, die ihre Obsessionen im privaten (Hobby-) Keller ausleben. Darunter auch ein Jäger, der seine Sammlung an ausgestopften Wildtieren präsentiert, was offenkundig Seidls Interesse weckt. »Safari« ist nun quasi die Fortsetzung und erzählt von Jagdtouristen, die nach Afrika fahren, um dort als eine Art Freizeitvergnügen Wildtiere abzuschießen und anschließend vor ihnen zu posieren. Er selbst nannte ihn einen »Urlaubsfilm über das Töten, einen Film über die menschliche Natur«. Allerdings gestand er im Interview, dass er in seinem Bemühen, sich in die Protagonisten von »Safari« hineinzuversetzen und deren inneren Antrieb nachzuvollziehen, wohl gescheitert sei. Das »sinnlose Erschießen von Tieren« erschien ihm letztlich als Gleichnis für die Art und Weise, wie der Mensch seine eigenen Lebensgrundlagen zerstört oder längst zerstört hat, getrieben von einer maßlosen Gier.

In allen Filmen Seidls werden immer auch Machtverhältnisse verhandelt und untersucht. Angefangen mit einem seiner ersten Dokumentarfilme, für den er Männer traf, die sich eine asiatische Ehefrau »angeschafft« hatten (»Die letzten Männer«, 1994) bis hin zu »Safari«. Kühl und wie nebenbei werden hier die postkolonialen Machtstrukturen bloß gelegt, die trotz aller Emanzipation das Verhältnis zwischen Herr und Knecht bestimmen. Die afrikanischen Helfer, Diener, Scouts und die Arbeiter, die nachher die Tiere zerlegen und präparieren, kommen im Film nicht zu Wort; sie bewohnen einfach nicht die gleiche Welt wie die weißen Urlaubsjäger, wie Georg Seeßlen in einem klugen Essay im Buch analysiert. »Safari«, schreibt er, gebe die »Semantik des Postkolonialismus« wieder und sei gleichzeitig ein beredtes Beispiel für die Wirkmacht politischer Ökonomie.

Ein Bildband als Erweiterung und Vertiefung eines Films ist nicht ungewöhnlich; bei Seidl hat dieses Unterfangen doppelt Sinn, denn nicht nur bietet das Buch den Diskursraum für die Vertiefung der Seidlchen Gesellschaftsanalyse, wovon die Texte - unter anderem von Sibylle Berg, Seeßlen sowie ein ausführliches Interview mit Seidl - zeugen.

Auch die Filmbilder können ihre Wirkung in einem Buch anders entfalten. Während im Film das Einzelbild hinter dem steten Bilderstrom zurücktreten muss und ein Augenblick sofort den nächsten nach sich zieht, lässt sich der Film im Buch praktisch anhalten und gibt Raum und Zeit, sich auf Details einzulassen. Mit Seidls Vorliebe für lange und distanzierte Kameraeinstellungen sowie genau komponierte Menschen-Tableaus, die dann für eine gewisse Zeit still vor der Kamera verharren, versucht er bereits im Film, die beiden Medien zu verbinden. Auf filmische Konventionen lässt er sich sowieso nicht festlegen. Auch wenn Seidl sich dokumentarischer Mittel bedient, ist er keineswegs Dokumentarfilmer im engeren Sinne, dazu erschafft er sich allzu oft seine eigenen Realitäten, greift in die Handlung ein und verschiebt damit die Grenzen zwischen Fiktion und Realität nach Belieben oder hebt sie gleich ganz auf. Es mindert den aufklärerischen Wert seiner Filme mitnichten, zu wissen, dass Seidl mitunter als Regisseur im Wortsinne auftritt und durchaus auch mal Anweisungen an seine Protagonisten gibt, um den Schauwert seines Films zu steigern. Und damit auch den des Bildbandes, der vom Grafiker Axel Völcker kongenial gestaltet wurde. Die Motive im Buch sind eine Mischung aus Standbildern sowie den Aufnahmen des Regisseurs, der an den Drehorten und Schauplätzen des Films in Namibia und Südafrika auch selbst fotografiert hat.

Im Mittelpunkt stehen die klassischen Porträts der Protagonisten. Seidls Vorliebe für die Zentralperspektive verleiht diesen Porträts eine geradezu sakrale Strenge. Der streng symmetrische Bildaufbau schafft eine Ruhe, die die Menschen auf den Bildern in den Mittelpunkt rückt und sie gleichzeitig in ihrem Umfeld verortet, ob am Urlaubsort oder bei sich zu Hause. Letzteres ist freilich interessanter, weil die Protagonisten in ihrem sozialen Umfeld platziert und damit deren Bezüge sichtbar werden. Damit werden die Gruppenporträts zu psychologischen Charakterbildern, die in ihrer präzisen Komposition Familienaufstellungen im therapeutischen Sinne gleichen. Tatsächlich erzählt Seidl im Buch von seiner überraschenden, ja prägenden Beobachtung, wie nach dem Schießen eines Tieres eine emotionale Nähe zwischen den Protagonisten, die oft als Familie unterwegs sind, entstehe, wie sie sich ergriffen und voller Rührung umarmten, küssten und gegenseitig gratulierten. Der Akt des Tötens scheine eine Art emotionale Befreiung zu sein, über den sich Nähe herstellen lässt. Spürt man also erst durch das Töten richtig das Leben und gilt das auch im größeren Maßstab, also für den Krieg? In diesem Sinne ist »Safari« hochaktuell in seiner Fragestellung. Der Fünfjährige allerdings möchte nach sorgfältiger Prüfung doch lieber Tierpfleger werden.

Ulrich Seidl: »Safari«, Kehrer-Verlag, 176 S., geb., 39,90 €.

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