Martin Parr: Die Besonderheit des Banalen

Kaum einer konnte Prekariat, Witz und Klassenfrage so gut in einem Foto montieren wie Martin Parr. Nun ist er gestorben

New Brighton, England, 1983-85, aus der Serie »The Last Resort«
New Brighton, England, 1983-85, aus der Serie »The Last Resort«

Für viele angehende Fotografen, die sich der Dokumentarfotografie verpflichtet fühlen, sind die Bilder von Martin Parr vermutlich ein Erweckungserlebnis gewesen. Den Aufstieg zum leuchtenden Stern am Fotografenhimmel verdankte Parr seinen Aufnahmen von den Freizeitritualen der englischen Arbeiterklasse am Beispiel des Seebads New Brighton am Rande Liverpools. In seinem legendären Fotobuch »The Last Resort« (zu Deutsch etwa »Die letzte Zuflucht«) versammelte Parr zwischen 1983 und ’85 entstandene Bilder von Menschen, die ihre Wochenenden bei »cheap thrills« an überfüllten Stränden, in Spielhallen, bei kruden Schönheitswettbewerben oder in gammeligen Fish-’n’-Chips-Läden verbringen, wo sie Junkfood in sich und ihre Kinder hineinstopfen.

Damit wurden seine Bilder zum ungeschönten Spiegelbild einer für Außenstehende skurril anmutenden Nationalkultur der »kleinen Leute«, inklusive aller geschmacklichen Entgleisungen. Entstanden auf dem Höhepunkt der Thatcher-Jahre, waren seine Bilder gleichzeitig ein schneidender Kommentar auf Gesellschaft und Klassenverhältnisse. Kleine Anmerkung am Rande: Bei meinem letztjährigen Aufenthalt in Blackpool, einem Seebad ganz in der Nähe von und ähnlich gestrickt wie New Brighton, konnte ich mich davon überzeugen, dass Parr heute noch exakt dieselben Motive finden würde wie damals in den 80ern.

Seine Bilder wurden zum ungeschönten Spiegelbild einer für Außenstehende skurril anmutenden Nationalkultur der »kleinen Leute«, inklusive aller geschmacklichen Entgleisungen.

Mit »The Last Resort« wurde Parr weltbekannt, aber bereits zuvor hatte der 1952 nahe London Geborene ein umfangreiches fotografisches Oeuvre angesammelt. Der Scheidepunkt zwischen den frühen Werken und den späteren – berühmten – Arbeiten war der Umstieg auf die Farbfotografie. Bis zu »The Last Resort« arbeitete Parr wie jeder »seriöse« britische Fotograf seiner Zeit ausschließlich in Schwarz-Weiß und stand damit ganz in der Tradition der British Documentary Photography mit Vertretern wie Chris Killip oder Don McCullin. Erst kürzlich waren die »Early Works« in Berlin ausgestellt, und es wurde ersichtlich, wie sehr sich Ästhetik und Bildsprache später mit der Entscheidung für die Farbe gewandelt haben.

Ob nun Farbe oder Schwarz-Weiß – inhaltlich-thematisch ist sich Parr zeitlebens treu geblieben; stets war er ein genauer Beobachter von Alltagssituationen, die er satirisch zuspitzte und damit überhöhte. Für Parr wurde eine Situation dann zum Motiv, wenn es diesen Moment der Irritation gibt, der den Betrachter neugierig macht und ihn dazu bringt, genauer hinzuschauen. Seine Bilder sind Momentaufnahmen, die, so wie Parr sie sah und fotografierte, dem Augenblick eine skurrile Bedeutung verleihen und damit hinterfragen.

Im Laufe der Zeit kultivierte Parr dann das Grelle, Bissige, auch Übergriffige, das seine Bilder kennzeichnete und mit denen er durchaus auch provozieren wollte. Das Besondere an Parrs ungeschönten Motiven mit ihrer grellen Farbigkeit war die ungeheure Chuzpe und Distanzlosigkeit, mit der er seinen Motiven sehr nahe kam und mitleidlos den Auslöser drückte, wenn es eigentlich nahegelegen hätte, pietätvoll wegzublicken. Allzu gerne wüsste man, wie oft Parr in früheren Jahren, als er noch nicht so bekannt war, wohl Prügel angedroht wurden, wenn er mal wieder eine Schamgrenze überschritt.

Nach Erscheinen von »The Last Resort« wurde ihm sogar vorgeworfen, er als Mittelschichtsfotograf – in Großbritannien ist die Klassenzugehörigkeit bekanntermaßen sehr viel identitätsstiftender als im Rest Europas – würde hart arbeitende normale Leute der Lächerlichkeit preisgeben und einer gebildeten Mittelschicht zum Fraß vorwerfen. Das war auch der Grund, weshalb die Mitglieder der legendären Fotografenagentur Magnum lange haderten, bis sie Parr nach kontroversen Diskussionen 1994 doch aufnahmen. Später wurde er dann sogar Präsident von Magnum.

Parrs geradezu anthropologischer Blick auf all die Verwerfungen und Absurditäten der globalisierten Vergnügungsindustrie oder des Massentourismus hat ihn zu einem der einflussreichsten Vertreter seiner Zunft in der zeitgenössischen Fotografie gemacht. Seine Motive könnten dabei unspektakulärer kaum sein; in aller Regel sind es schnöde Alltagsszenen. Ihre Spannung ergibt sich nicht aus dem dramatischen Geschehen auf dem Bild, sondern aus der Art, wie Parr die banale Wirklichkeit durch seine Interpretation mit Bedeutung auflädt und damit zu etwas Besonderem macht. Bilder, wie Parr sie fand, kann man nicht wollen; man muss offen und empfänglich für den einen Moment sein, in dem eine Situation zu einem Bild gerinnt. Und natürlich rechtzeitig den Auslöser drücken. Am vergangenen Sonntag ist Parr mit 73 Jahren in seiner Heimatstadt Bristol gestorben.

Wir sind käuflich. Aber nur für unsere Leser*innen.

Die »nd.Genossenschaft« gehört ihren Leser*innen und Autor*innen. Sie sind es, die durch ihren Beitrag unseren Journalismus für alle zugänglich machen: Hinter uns steht kein Medienkonzern, kein großer Anzeigenkunde und auch kein Milliardär.

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen aufgreifen
→ marginalisierten Stimmen Raum geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten voranbringen

Mit »Freiwillig zahlen« machen Sie mit. Sie tragen dazu bei, dass diese Zeitung eine Zukunft hat. Damit nd.bleibt.