Ein verschärftes Problem

Wohnungs- und Obdachlosigkeit könnten durch den Ukraine-Krieg zunehmen, befürchtet Christopher Wimmer

  • Christopher Wimmer
  • Lesedauer: 4 Min.

In Deutschland gibt es, im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern, keine amtliche Statistik zur Zahl von Menschen ohne festen Wohnraum. Lediglich die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W), eine Arbeitsgemeinschaft von privaten und öffentlichen Sozialorganisationen sowie sozialen Diensten und Einrichtungen für wohnungslose Menschen, führt regelmäßig Erhebungen durch. In ihrer letzten Schätzung kam die BAG W auf eine Jahresgesamtzahl von 678 000 Menschen ohne festen Wohnraum. Von ihnen lebten etwa 41 000 Menschen ohne Unterkunft auf der Straße.

Die große Mehrheit lebte in Notunterkünften sowie geflüchtete Menschen in den Gemeinschaftsunterkünften oder in dezentraler Unterbringung. Die Zahlen zeigen ebenso, dass die große Mehrheit von rund 441 000 Menschen Geflüchtete sind, was rund zwei Dritteln der Gesamtzahl entspricht. Die Zahlen belegen schonungslos, dass Wohnungs- und Obdachlosigkeit kein soziales Randphänomen darstellen, sondern, dass es sich in der Mitte der Gesellschaft abspielt. Der Krieg gegen die Ukraine kann dieses Problem noch verstärken - wenn nicht die richtigen Schritte eingeleitet werden.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Seit Beginn des russischen Angriffs wurden bisher amtlich über 300 000 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine in Deutschland gezählt. Ihre tatsächliche Zahl liegt wahrscheinlich deutlich höher, weil es an der deutsch-polnischen Grenze keine Kontrollen gibt und sich Menschen mit ukrainischem Pass zunächst für 90 Tage frei in der EU bewegen können.

Die Unterbringung der Geflüchteten bedeutet eine enorme Kraftanstrengung. »Wir stehen vor riesigen Herausforderungen bei der Unterbringung und Versorgung«, so der Geschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, Gerd Landsberg, in einem Pressebericht. »Für Unterbringung und Integration müssen etwa 1000 Euro pro Person und Monat angesetzt werden.« Der Deutsche Städte- und Gemeindebund rechnet mit Milliardenkosten durch ukrainische Geflüchtete.

Doch brauchen die Menschen kurzfristig Unterkünfte - und viele wohl auch langfristig eine eigene Wohnung. Deutschland benötige deshalb schnellstmöglich bis zu 500 000 neue Wohnungen. Diese Zahl findet sich in einer Studie im Auftrag des Zentralen Immobilien Ausschusses ZIA, einem Spitzenverband der Immobilienwirtschaft. Zwar könne ein Teil der Geflüchteten in leeren Wohnungen unterkommen, jedoch müsse knapp die Hälfte des Bedarfs durch Neubau gedeckt werden, so die Studie.

In Berlin, wo eine große Zahl der Geflüchteten ankommt, hält es die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen noch für zu früh für Prognosen und will sich noch nicht mit einer Neubauoffensive beschäftigen. Da in der Hauptstadt der Neubau aber ohnehin schleppend läuft und gleichzeitig die Mitpreise explodieren, droht vielen Geflüchteten Wohnungslosigkeit - und damit eine verschärfte Konkurrenz um die ohnehin schon knappen Plätze der Not- und Kälteübernachtung.

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Soziale Träger haben daher erhöhte Anstrengungen gefordert, um Geflüchtete nicht in die Wohnungs- und Obdachlosigkeit zu treiben. So gebe es in Berlin noch große Hürden bei der Umsetzung der Senatsstrategie, die Wohnungslosigkeit bis 2030 zu beenden, erklärten Vertreter*innen von Diakonie, Berliner Stadtmission, den Johannitern und der Gebewo Pro. Noch immer sei die Zahl von Hilfsangebote im Rahmen Kälte- und Nothilfe zu gering, damit Menschen nicht mehr auf der Straße leben müssen.

Bereits vor dem Krieg teilten die Verbände mit, dass sie in diesem Winter deutlich mehr Menschen betreuen mussten als vergangenes Jahr. Laut Bericht haben rund 15 Prozent mehr Menschen Hilfe bei der Organisation gesucht. Insgesamt seien es 3.326 obdachlose Menschen gewesen, die versorgt wurden. Die Saison für die Kältebusse der Stadtmission endete vor zwei Wochen. Die Gefahr massiver Wohnungs- und Obdachlosigkeit von ukrainischen Geflüchteten beginnt gerade.

Christopher Wimmer ist freischaffender Journalist und Soziologe. Er promoviert derzeit über die Lage und das Bewusstsein marginalisierter Menschen in Deutschland.

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