• Kultur
  • Kinderhorrorfilm »The Innocents«

Ist das Sadismus oder Neugierde?

Ein Klassiker des Kinderhorrorfilms: »The Innocents« ist eine filmische Meditation über kindliche Unschuld

  • Benjamin Moldenhauer
  • Lesedauer: 4 Min.

Kinder können sehr, sehr unheimlich sein. Anders könnte man sich ihre dauerhafte Präsenz in der Geschichte des Horrorfilms nicht erklären. Wäre da nichts Wirkliches, woran die erwachsene Angstlust produzierenden Bilder anknüpfen könnten, wäre die Figur des unheimlichen Kindes im Genre nicht dermaßen verbreitet. Am ausdauerndsten ist das vom Teufel besessene Kind, das das Irritationspotenzial des Nachwuchses sozusagen religiös rationalisiert. Entweder in der still-bedrohlichen Form, zum Beispiel in »Omen«, oder als expressiv-randalierende Dreckschleuder wie in »Der Exorzist«. Dann gibt es das soziopathische Einzelgängergör, von »The Bad Seed« über die Eröffnungssequenz von »Halloween« bis zu »Das zweite Gesicht«. Und schließlich, ungemein effektiv, die Kinderhorde, die sich, in unerklärlicher Weise untereinander verbunden, abspricht, um die Erwachsenen zu meucheln, etwa in »Village of the Damned« oder »The Children«.

Der Film »The Innocents« gehört in die letzte Kategorie und wird in ein paar Jahren voraussichtlich als Klassiker des Kinderhorrorfilms gelten. Die Schwestern Ida (Rakel Lenora Fløttum) und Anna (Alva Brynsmo Ramstad) ziehen mit ihren Eltern in einen Neubaukomplex. Ida ist neun Jahre alt und muss sich um Anna kümmern. Anna ist Autistin. Gleich in der Eröffnungssequenz zeigt uns Regisseur und Autor Eskil Vogt mit Kamera und Schnitt, wie er den Filmtitel verstanden wissen will. Ida kneift Anna in den Arm, fest, und schaut, wie sie reagiert. Noch ist offen, wie der Moment zu verstehen ist, als kindlicher oder als gefährlicher Sadismus - oder auch als Neugierde. Die Kinder in diesem Film jedenfalls sollen erst einmal unschuldig sein, bei allem Schrecklichen, was sie tun, und das ist nicht wenig. Eine der Fragen, die dieser Film stellt, ist, wie lange diese Einschätzung bei Zuschauer und Zuschauerin hält.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Ida lernt Ben (Sam Ashraf) kennen, der auf dem Fußballplatz von den Älteren gedemütigt wird und Gegenstände durch die Luft fliegen lassen kann. Das Mädchen Aisha (Mina Yasmin Bremseth Asheim) wiederum nimmt Kontakt zu Anna auf, mit der Kraft ihrer Gedanken. Anna fängt zum ersten Mal an zu sprechen, oder besser: Aisha spricht durch sie.

Telekinese und Gedankenübertragung gehen hier zusammen mit dem banal Grausamen: Bald fliegt eine Katze das Treppenhaus hinunter, ihr Schädel wird zertreten. Dass Eskil Vogt es schafft, dass man auch nach den genau gesetzten Terrormomenten des Films mit diesen Kindern empathisch verbunden bleibt, ist eine der stillen Überraschungen von »The Innocents«. Es genügen wenige Momente und Andeutungen, um zu zeigen, dass der kindliche Sadismus nicht aus dem Nichts oder vom Teufel kommt, sondern aus der Welt der Erwachsenen. Man kann den Kindern hier nicht wirklich böse sein.

Eine Heidenangst machen sie einem trotzdem. »The Innocents« ist der unheimlichste Horrorfilm seit Jahren. Das Geschehen ist bis zum wundervoll inszenierten, entdramatisierten Schluss unheimlich nicht nur im Sinne von gruselig, sondern auch, weil die Gewalt der Kinder und ihre übernatürlichen Fähigkeiten hier verbunden sind mit ganz weltlichen Dingen und mit ihrem Schmerz. Das eine Kind agiert die Gewalt der Erwachsenen aus, das andere die Zumutungen der Situation. Es genügen eine Einstellung auf blaue Flecken und ein Dialog zwischen Mutter und Sohn, um zu realisieren, wer hier zu Hause geschlagen wird. Und es genügt ein Dialog zwischen Mutter und Tochter, um zu verstehen, warum die eine Schwester der anderen Glasscherben in den Schuh legt.

Die kindliche Machtlosigkeit wird durch die Mittel der Phantastik verbunden mit einer kindlichen Allmacht, vor der man sich - bei dem, was die Kinder alles so mitmachen müssen - zu Recht fürchten sollte. Auf dieser Ebene ist »The Innocents« eine filmische Meditation über kindliche Unschuld. Da kann man nach dem Film dann weiter drüber nachdenken, wenn man möchte. Während des Sehens aber ist das hier zuallererst einmal Spannungskino und einer der intensivsten, bildmächtigsten und intelligentesten Horrorfilme seit »Let the right one in«.

»The Innocents«: Norwegen, 2021. Regie und Buch: Eskil Vogt. Mit: Rakel Lenora Fløttum, Alva Brynsmo Ramstad, Mina Yasmin Bremseth Asheim, Sam Ashraf. 117 Minuten. Jetzt im Kino.

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