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Kein Gefühl!

Andreas Koristka hält ein flammendes Plädoyer für emotionslose Politiker

Emotionalität ist ein zweischneidiges Schwert. Sie führt dazu, dass Tränen der Rührung in den Augenwinkeln glitzern, während man niedlichen Zwergspitz-Welpen über ihr wuscheligen Köpfchen streichelt, und dass man beim Ende von »Lassie« immer wieder weinen kann. Auf der anderen Seite kann Emotionalität auch bewirken, dass wir Zeitdruck so intensiv empfinden, dass wir der alten Dame vor uns an der Kasse das Portemonnaie aus der Hand schlagen, weil ihre zittrigen Finger viel zu lange brauchen, um die passenden Münzen zu grabschen.

Der SPD-Bundestagsabgeordnete und ehemalige Berliner Bürgermeister Michael Müller ist sich der Gefahr, die von unseren Gefühlen ausgeht, durchaus bewusst. Darum fand Müller mahnende Worte, als Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Anton Hofreiter und Michael Roth von ihrem Ukraine-Aufenthalt heimkehrten: »Wir haben erlebt, dass die Abgeordneten durch die Bilder und die Gespräche vor Ort voller Emotionen zurückgekommen sind und dann sehr, sehr schnell auch Forderungen in Richtung Bundesregierung formuliert haben.«

Die Kritik kommt aus berufenem Munde. Denn es gibt wohl kaum einen Menschen auf dem Planeten, der so streng mit seinen Emotionen haushaltet wie Michael Müller. Abgesehen von einer offen zur Schau getragenen Bockigkeit hat er sich noch keinem einzigen Gefühlsausbruch hingegeben. Der Preuße Müller ist das lebende Gegenbeispiel zu rheinländischen Frohnaturen wie zum Beispiel Armin Laschet und Wolfgang Bosbach mit ihrem ansteckenden Lachen und den extrovertierten Toupets.

Nicht ohne Grund regierte Michael Müller die Hauptstadt, wo eh schon alles egal ist. Bei seinem Weggang hinterließ der Büroaufsteiger ein Loch in der Berliner Politik, das in etwa den Ausmaßen eines Registratur-Lochers entsprach. Müller passte nach Berlin - in diese Stadt, in der die Bewohner gleichmütig von einem Hundehaufen in den nächsten tapsen und ihre Emotionen bestmöglich zu verbergen wissen. Unkontrollierte Wutausbrüche sind geradezu verpönt - wenn sie nicht Touristen gelten, die auf Radwege laufen, Touristen, die in den Lichtschranken der Bustüren stehen und Touristen, die frech im Restaurant bedient werden wollen. Diese stoische Gelassenheit ist der Grund dafür, dass die völlig emotionslosen Berliner überall auf der Welt heißblütig geliebt werden.

Ein echter Berliner wie Michael Müller neigt trotz seines unter einer festen Schale verborgenen Kerns aus Erdbeermarmelade nicht dazu, sich von seinen Empfindungen leiten zu lassen. Wie sollte er es auch sonst geschafft haben, bis heute nicht aus der SPD ausgetreten zu sein? Könnte man in dieser Partei sein, wenn man Leid zu spüren vermag? Oder Scham? Und tut Müller nicht gut daran, ein wenig auf die emotionale Bremse zu treten? Ganz nüchtern betrachtet hat er doch recht: Ein Bombardement auf Moskau wäre in der derzeitigen Lage nicht hilfreich. Darum muss Deutschland sachlich bleiben. So schwer es auch fällt. Vielleicht kann man doch noch mal Schröder zu Putin schicken? Oder es zur Abwechslung mal Steinmeier? Der hat schließlich keinen guten Ruf mehr zu verlieren. Deutschland jedenfalls sollte jetzt mit Augenmaß und der nötigen Ehrfurcht vor kalten Gasheizungen vorgehen. Zügeln wir unsere Emotionen und tun wir das, was Michael Müller tun würde!

Dann werden wir in einigen Jahren Bundesminister in irgendeinem nicht so wichtigen Ressort sein. Ob uns das dann freut oder nicht, werden wir wohl eher nicht nach außen tragen. Es geziemt sich nicht. Aber nach innen zu jubeln ist erlaubt - wenn man dabei nicht versehentlich die Mundwinkel hebt.

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