- Politik
- Flucht aus der Ukraine
»Ich kann gerade nicht träumen«
Drittstaatsangehörige, die aus der Ukraine fliehen, bekommen in Deutschland derzeit nur in bestimmten Fällen temporären Schutz
Am 25. Februar um 5.30 Uhr sind Marc (Name geändert) und Jean Jacques am Bahnhof in Odessa. Mit drei anderen Freunden steigen sie zuerst in einen Zug nach Winnyzja, später in einen zweiten nach Lwiw. Ab da gehen sie zu Fuß weiter: 94 Kilometer bis zum Grenzübergang Schegyni. Auf der anderen Seite ist Polen. Hier angekommen, sehen sie zwei Schlangen: »eine für Ukrainer*innen und eine für Ausländer*innen«. Als sie die bewaffnete Sicherheitskraft fragen, warum es überhaupt getrennte Schlangen gibt, wird ihnen Gewalt angedroht. Aus Angst beschließt die Gruppe, zum nächsten Grenzposten zu gehen. Hier hindert man sie mehrmals am Übergang, während ukrainische Flüchtende durchgelassen werden. Nach etwa elf Stunden lässt man sie endlich ausreisen. Doch beim Betreten polnischen Bodens wird Jean Jacques von seinen Freunden getrennt: Ein Grenzbeamter sieht, wie er sich aus Erschöpfung auf den Boden setzt, und schickt ihn zurück ans Ende der Schlange. Jean Jacques beginnt zu halluzinieren, legt sich auf den gefrorenen Boden und schläft ein. Erst am nächsten Tag gelingt es ihm, in die Europäische Union einzureisen. Es ist der 27. Februar.
Rund einen Monat später sitzen Marc und Jean Jacques am Küchentisch einer Berliner Wohnung und versuchen, ihre Flucht zu rekonstruieren. Leicht ist es nicht. Sie denken laut nach, fallen einander ins Wort, blicken noch einmal auf Kalender und Karte. Hin und wieder lassen sie ein Wort auf Russisch fallen. Die zwei Männer, 28 und 33 Jahre alt, kommen aus Kinshasa, der Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo. Kennengelernt haben sie sich 2014 in Odessa, wo sie Informatik und Elektrotechnik studierten. In ihren Berufen konnten sie nach dem Studium nicht so richtig durchstarten: »Wenn du Nicht-Ukrainer und insbesondere Afrikaner bist, sind die meisten Unternehmen nicht bereit, dich einzustellen oder fair zu bezahlen«, sagt Marc resigniert. Zuletzt arbeiteten die beiden im Kundenservice derselben Firma. »Der Job war nicht unser Traum, das Leben recht schwer, aber die Tage hatten eine Struktur und wir waren unabhängig. Jetzt müssen wir uns all das neu erkämpfen«, sagt Jean Jacques.
In der Regelung, die Deutschland zur Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine verabschiedet hat, werden Schicksale wie die von Marc und Jean Jacques auf einen entmenschlichten Begriff reduziert: Drittstaatsangehörige. Durch diesen Status werden Menschen, die häufig schon auf der Flucht Rassismus ausgesetzt waren, zusätzlich diskriminiert. Die meisten von ihnen fallen nämlich nicht unter den Paragrafen 24 des Aufenthaltsgesetzes, mit dem Deutschland die am 4. März aktivierte EU-Massenzustrom-Richtlinie umsetzt. Durch sie können Geflüchtete mit ukrainischem Pass unbürokratisch Aufenthaltserlaubnis, Zugang zu Arbeit, Bildung und Sozialleistungen für vorerst zwei Jahre erhalten. Drittstaatsangehörigen steht der temporäre Schutz hingegen aktuell nur in bestimmten Fällen zu: Wenn sie Familienangehörige ukrainischer Staatsbürger*innen sind, wenn sie in der Ukraine bereits einen anerkannten Flüchtlingsstatus hatten oder wenn sie nicht sicher und dauerhaft in ihr Herkunftsland zurückkehren können.
Doppelstandards bei der Gewährung von Schutz
Die Prüfung der Rückkehrmöglichkeit soll bei einem unbefristeten Aufenthaltstitel in der Ukraine laut Bundesinnenministerium in der Regel entfallen. »Doch die meisten hatten lediglich eine befristete Aufenthaltserlaubnis. Da orientiert sich Deutschland für die Prüfung an den Abschiebungsverboten«, erklärt Alexander Gorski, Anwalt für Migrations- und Asylrecht in Berlin. Diese greifen etwa, wenn eine schwerwiegende Krankheit vorliegt, die Grundbedürfnisse im Herkunftsland nicht erfüllt werden können oder die Rückführung eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention bedeuten würde. »Das macht den Anspruch auf Schutz für die meisten Drittstaatsangehörigen sehr unwahrscheinlich«, so Gorski weiter. Bei den kostenfreien Rechtsberatungen, die er wöchentlich im Görlitzer Park anbietet, empfange er hauptsächlich junge Menschen, die ausnahmslos mit einem befristeten Aufenthaltstitel in der Ukraine gelebt hätten. Darunter viele Studierende aus afrikanischen Ländern, vor allem aus Nigeria, Ghana und Kamerun sowie aus Pakistan und Indien. »Wir haben es mit einem klaren Doppelstandard zu tun, weil die Gewährung von Schutz an der Staatsangehörigkeit festgemacht wird und nicht an dem Fakt, dass diese Leute ihren Lebensmittelpunkt in der Ukraine hatten und vor einem Krieg fliehen mussten«, erläutert Gorski. Die Ungleichbehandlung nach Staatsangehörigkeit sei in diesem Fall eindeutig rassistisch.
Marc und Jean Jacques sind mit ukrainischen Staatsbürgerinnen verheiratet. Doch sie wissen noch nicht, ob ihnen der temporäre Schutz zusteht, denn nach Deutschland kamen sie alleine. Während sie auf Klarstellungen seitens der Behörden warten, bereiten sich die zwei Männer auf einen Plan B vor. Sie besuchen Beratungen, lernen Deutsch, scrollen unentwegt durch Jobportale. »Wir fühlen uns erschöpft und verwirrt, aber wir sind es gewohnt, neu beginnen zu müssen«, schildert Marc. »Ich erlaube mir nicht mal, die Erschöpfung zu spüren oder zu weinen. Denn ich weiß, dass ich keine andere Wahl habe als weiterzumachen«, schiebt Jean Jacques hinterher. Er erzählt, dass ihm in Polen ein Helfer, den er auf Russisch angesprochen hatte, gesagt habe: »Vergiss Russisch. Jetzt beginnt für dich ein neues Leben.« Danach fühle es sich erst mal nicht an, sagt Jean Jacques.
Kriegsvertriebene Drittstaatsangehörige können sich vorerst bis Ende August visumfrei in Deutschland aufhalten, jedoch ohne Zugang zum Arbeitsmarkt. Bis dahin wollen viele versuchen, regulär einen Aufenthaltstitel zu beantragen, um studieren zu können oder einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Besonders zynisch erscheinen die Voraussetzungen bei Menschen, die nicht nur vor einem Krieg geflüchtet sind, sondern auch aus Ländern stammen, die bis heute an den Folgen des europäischen Kolonialismus leiden. De facto ist nur eine Einwanderung von Fachkräften möglich, die vergleichsweise gut bezahlte Stellen im Bereich ihrer Qualifikation finden. Studierende sollen einen gesicherten Lebensunterhalt nachweisen, etwa durch ein Stipendium oder ein Sperrkonto in Höhe von 10 300 Euro, und dürfen nur eingeschränkt arbeiten. »Das werden die wenigsten stemmen können«, sagt Gorski. Die meisten Menschen, die sich von ihm beraten ließen, befänden sich schon jetzt in finanzieller Notlage und seien praktisch gezwungen, den Antrag auf vorübergehenden Schutz zu stellen, auch wenn sie mit einer Ablehnung rechnen: »Für die Zeit der Antragsprüfung können sie wenigstens Sozialhilfe erhalten oder einen Job suchen. Für die meisten geht es nicht mehr ohne. Die Leute brauchen Essen und Ordnung in ihrem Leben.«
Druck auf Institutionen führt zu ersten Erfolgen
Für internationale Studierende wie Eddie Queen ist die aktuelle Lage besonders verunsichernd. »Wir stecken zwischen Hammer und Amboss«, kommentiert die 21-Jährige, die bis vor Kurzem Medizin in Poltawa, in der Nähe von Charkiw, studierte. Nach einer zermürbenden Flucht über Kiew und Budapest wohnt sie aktuell in einem Hostel im Berliner Stadtteil Mitte. »Ich brauche dringend einen Job, um zu überleben«, konstatiert sie. Das Leben hier sei viel teurer als in der Ukraine. Ersparnisse gebe es auch nicht mehr, das Studium habe ihre Familie bereits 5000 Dollar pro Jahr gekostet. »Nach Ghana zurückzukehren wäre eine Katastrophe. Ich würde wahrscheinlich nicht mehr herauskommen können«, sagt sie.
Esther (Name geändert) aus Nigeria sieht es ähnlich. Die 18-Jährige redet leise und lächelt oft schüchtern zwischen ihren kurzen Sätzen. Auch sie studierte Medizin in Uschgorod, ganz im Westen der Ukraine. »In Nigeria ist der Hochschulsektor stark beeinträchtigt. Es gibt Streiks des Lehrpersonals. Die Universitäten bleiben lange geschlossen«, erklärt sie. Sie habe von einer besseren Zukunft geträumt, auch um ihre Eltern zu unterstützen. »Ich habe sie nicht mehr gesehen, seit ich in die Ukraine gezogen bin. Da war ich 16. Ich vermisse sie, aber ich versuche durchzuhalten.« Esther hofft, in Berlin weiter studieren zu können.
In Berlin kommt der Großteil der Unterstützung für Drittstaatsangehörige von BIPoC-Communities, vor allem von Schwarzen Organisationen, die auch den Druck auf Institutionen erhöhen. Das hat zu ersten, positiven Reaktionen geführt. Der Berliner Senat arbeitet nach eigenen Angaben an einer Lösung für internationale Studierende. Auch einzelne Universitäten suchen nach Wegen, um Studierenden aus Drittstaaten eine kurzfristige Zulassung zu ermöglichen, etwa durch eine Gasthörerschaft. Die Stadt Hamburg stellt ihnen seit Kurzem ein vorläufiges Aufenthaltsrecht zur Fortsetzung des Studiums aus. »Das sind tolle Nachrichten. Aber von den konkreten Bedingungen wissen wir noch wenig«, sagt T. Vicky Germain. Sie ist Projektmanagerin der neugegründeten Initiative Cusbu (Communities Support for BIPoC from Ukraine), die bundesweit Schwarze Geflüchtete und Geflüchtete of Color unterstützt – von der Unterkunftssuche bis zu Rechts- und psychosozialen Beratungen. Germain hofft etwa, dass die finanziellen Voraussetzungen gesenkt werden und die Studierenden uneingeschränkt neben dem Studium jobben dürfen. Wichtig sei auch, den Übergang in deutsche Universitäten nachhaltig zu gestalten. »Wir brauchen Garantien für diese Studierenden. Sie sind weit weg von ihren Familien, erleben eine Menge altersbedingten Stress, sind dem Krieg entkommen und müssen sich nun in ein komplett neues System einfinden – und gleichzeitig mit dem Gefühl umgehen, hier unerwünscht zu sein«, so Germain.
Rassismusvorfälle an den Grenzen
Der strukturelle Ausschluss beginne bereits bei der Informationspolitik, meint Nine Yamamoto. Sie ist schon länger als Aktivistin in antirassistischen Kontexten aktiv und unterstützt seit Ende Februar gezielt Drittstaatsangehörige aus der Ukraine – mit Behördengängen, Dolmetschen, Recherchen: »Ich merke, dass die Standardinformationen sich an Menschen mit ukrainischer Staatsbürgerschaft richten. Es wird oft gar nicht mitgedacht, dass es noch andere Leute gibt, für die diese Informationen teilweise nicht stimmen oder sogar gefährlich sein können«. Auf Ämtern habe Yamamoto, die selbst PoC ist, auch erlebt, wie es auf die einzelnen Sachbearbeiter*innen ankomme, ob Drittstaatsangehörige ausreichende und korrekte Auskunft bekommen. Da finde auch sehr viel Racial Profiling durch das Security-Personal statt. »Davon hört man leider zu wenig, aber Rassismus-Vorfälle gab es nicht lediglich an der ukrainisch-polnischen Grenze, sondern auch in Deutschland, etwa in Frankfurt (Oder) oder am Berliner Hauptbahnhof«, so Yamamoto.
Gorski bestätigt es. Er habe mehrere aus der Ukraine geflüchtete BIPoC anwaltlich vertreten, die von der Bundespolizei aus Bussen und Zügen rechtswidrig herausgeholt und kontrolliert wurden. Die Polizei habe die Ausweisdokumente eingezogen, sie in Erstaufnahmeeinrichtungen für Asylbewerber*innen geschickt und versucht, sie ins Asylverfahren zu drängen. »Diese Menschen sind dann in psychischer Notlage bei mir in Berlin angekommen und wir mussten Detektiv spielen, um die Dokumente wieder zu finden«, kritisiert er.
Auf die Frage, wovon sie für ihre Zukunft träumt, verzieht Eddie Queen ihr Gesicht in ein bitteres Lächeln und sagt: »Ich weiß nicht mal, wie lange ich noch in meinem Hostelzimmer bleiben darf. Ich kann gerade nicht träumen, nur warten.«
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