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Migration verhindert den Kollaps

Zugewanderte sichern unsere Gesundheitsversorgung. Für die Herkunftsgesellschaften kann das Probleme mit sich bringen

  • Ulrike Wagener
  • Lesedauer: 3 Min.

Ein Schlüsselwort der Corona-Pandemie war »systemrelevant«. Selten wurde so offenbar, wie wichtig ein funktionierendes Gesundheitssystem ist. Das am Dienstag vorgestellte Jahresgutachten 2022 des Sachverständigenrates für Integration und Migration (SVR) machte deutlich: Das deutsche Gesundheitssystem funktioniert nicht ohne Migrant*innen. Fast ein Viertel der im Gesundheitssektor Tätigen – insgesamt fast eine Million Menschen – haben einen Migrationshintergrund; das heißt, sie selbst, ihre Eltern oder Großeltern sind eingewandert. Besonders häufig trifft das auf den Altenpflegebereich zu. Hier hat ein Drittel einen Migrationshintergrund, bei den Ärzt*innen sind es über ein Viertel.

Die wichtigsten Herkunftsländer sind dabei Polen, Türkei, Russland, Kasachstan und Rumänien. Aber auch die Anzahl der Staatsangehörigen aus den wichtigesten Asylherkunftsländern in Gesundheitsberufen ist seit 2013 deutlich gewachsen. So hat sich die Zahl der syrischen Ärzt*innen seit 2013 von 1200 auf 5000 mehr als vervierfacht: »Ohne Zugewanderte stünde das deutsche Gesundheitssystem vor einem Kollaps. Das hat spätestens die Corona-Pandemie gezeigt«, sagt Petra Bendel, Vorsitzende der SVR. Trotzdem ist sich der Sachverständigenrat einig, dass der Fachkräftemangel nicht allein durch Migration abgedeckt werden kann.

Das wichtigste Argument dagegen ist ein Braindrain in den Herkunftsgesellschaften. Die Weltgesundheitsorganisation führt eine Liste von Ländern mit besonders kritischer Gesundheitsversorgung. Von dort ist es in Deutschland nicht erlaubt, aktiv Fachkräfte zu rekrutieren. Dennoch kann es unter Umständen eine Fachkräftemigration aus diesen Ländern geben. Ein Beispiel ist Rumänien. Aus dem Land seien etwa 20 000 ausgebildete Ärzt*innen ins Ausland abgewandert, geblieben seien noch 60 000. Insbesondere in der Corona-Pandemie habe sich das als kritisch erwiesen. Der SVR plädiert dafür, verstärkt Menschen bereits für eine Ausbildung in Deutschland anzuwerben. Ein Modell, bei dem auch die Herkunftsgesellschaften profitieren könnten, sei das zweigleisige Modell der »Global Skills Partnerships«, bei denen ein Zielland wie Deutschland Ausbildungen sowohl für das Herkunftsland als auch für das Zielland finanziere.

Wer mit einer abgeschlossenen Ausbildung im deutschen Gesundheitswesen arbeiten will, benötigt eine Anerkennung der Qualifikation. Zwar ist die Anerkennungsquote hoch, nur drei Prozent der im Jahr 2020 entschiedenen Anträge wurden abgelehnt. »Aber das kann sich über Monate hinziehen«, sagt Viola B. Georgi, Mitglied des SVR. Der SVR legt den zuständigen Bundesländern daher nahe, die Prozesse einheitlicher zu gestalten und beteiligte Behörden stärker zu verzahnen.

Migrant*innen arbeiten aber nicht nur im deutschen Gesundheitssystem, sondern sind auch auf eine adäquate Gesundheitsversorgung angewiesen. Das Gutachten erklärt, dass Gesundheit vor allem mit der sozialen Lage zusammenhänge, weniger mit einer Migrationsgeschichte. Allerdings könnten Diskriminierungserfahrungen und Sprachbarrieren den Zugang zum Gesundheitssystem behindern. Insbesondere bei Menschen ohne regulären Aufenthaltstitel sieht der SVR Nachbesserungsbedarf: Die Betroffenen haben zwar offiziell über das Asylbewerberleistungsgesetz Anspruch auf Gesundheitsversorgung, nähmen diese aber häufig nicht wahr – aus Angst vor Abschiebung. Der SVR empfiehlt daher eine Anpassung des Aufenthaltsgesetzes dahingehend, dass der Gesundheitsbereich auch jenseits medizinischer Notfälle von der Übermittlungspflicht gegenüber Ausländerbehörden ausgenommen ist.

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Die Wissenschaftler*innen fordern generell ein diversitätssensibleres Gesundheitssystem. Dem stünde allerdings auch entgegen, dass es in Deutschland noch zu wenig Forschung im Bereich »public health« (Gesundheitswesen) gebe. »Ich plädiere dafür, intersektionale Perspektiven für die Forschung stark zu machen«, sagt Georgi zu »nd«. Migrationshintergrund sei ein Diversitätsmerkmal, aber auch Alter, Generation, Geschlecht, sozialer Hintergrund und andere spielten eine wichtige Rolle.

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