Nichts ist normal

Für den Kapitalismus selten zu gebrauchen: Jonas Engelmann präsentiert ein Lesebuch über kulturelle Außenseiter

Zu nichts zu gebrauchen, jedenfalls nicht im Sinne des Kapitalismus: Gaston
Zu nichts zu gebrauchen, jedenfalls nicht im Sinne des Kapitalismus: Gaston

Außenseiter Spitzenreiter? Na ja, das Leben ist keine Fernsehshow. Aber Neugierde und Fantasie sind unabdingbar, um nicht zu verblöden, egal, ob im Fernsehen oder sonstwo. Ironie ist ebenfalls nicht verkehrt, sonst schafft man’s nicht im Alltäglichen. Nur kann man nicht alles ironisieren, denn dann weiß man gar nicht mehr, was richtig ist. Und wie ist das mit den Außenseitern? Die liegen für die Mehrheit immer falsch. Denn sie haben ihre eigenen Standards. Manche zerbrechen daran, andere wechseln die Position; und es gibt welche, die setzen sich durch – so beginnen mitunter die Erfolgsgeschichten der Erneuerung in Ökonomie, Kultur und Politik.

Jonas Engelmann hat sich mit den kulturellen Außenseitern beschäftigt. Die ökonomischen wären zu skurril und affirmativ gewesen. Um die kann sich die Zeitschrift »Brand Eins« kümmern, da schreiben die Nachwuchsleute von CDU, FDP und Grüne. Also alle, die an die Gerechtigkeit des Kapitalismus glauben wollen. Aber auch die historischen Kritiker dieser Idee, die politischen Außenseiter von den diversen Trotzkisten bis zu den diversen Anarchisten, sind vom Wissenschaftsbetrieb schon lange abgefrühstückt.

Mittlerweile weiß fast jeder, dass die sozialistischen und kommunistischen Parteien ohne ihre Dissidenten und Häretiker ziemlich trost- und geistlose Veranstaltungen darstellen. Und doch beschäftigen sich Linke am liebsten mit der Vergangenheit, weil sie ihnen irgendwie fulminanter als die Gegenwart vorkommt. Großes Problem: die ständige Historisierung. Auch da gibt es Konjunkturen: Bis 1989 war es hierzulande die vielfältig-avantgardistische Sowjetunion vor Stalins Terror, nach 1989 war es lange Zeit das nicht so hohle Jugoslawien bis zu Titos Tod. Konstant strahlt eigentlich immer nur Lateinamerika als ewige Hoffnung, von linkem Wahlsieg zu linkem Wahlsieg, und dann ist es doch nur más o menos.

Der Journalist Jonas Engelmann, der auch einer der Verleger des Außenseiterverlags Ventil ist, schreibt keine großen politischen Entwürfe, sondern Porträts schillernder Figuren, »die nicht so richtig reinpassen wollen in Gemeinschaft und Gesellschaft«. Es geht also wieder mal um die Individuen – die sind meistens interessanter als die Gesamtdarstellungen, weil man sie sich besser vorstellen kann. Und so versammelt Engelmann wie in einem Lesebuch ihm wichtige »Luftmenschen und Dropouts, Käuze und Sonderlinge«, damit man sie erst mal kennenlernt und sich dann eventuell mehr mit ihnen beschäftigt. Sie kommen aus der Literatur (zum Beispiel Peter Weiss, Peter Kurzeck, Fran Ross, Isaak Babel, Nella Larsen, Georges Perec), aus Jazz und Pop (Sun Ra, Kimya Dawson, Jandek, Björk, John Zorn), Film (Thomas Harlan, Claude Lanzmann), Kunst (Kurt Schwitters, Boris Lurie) und Comic (George Herriman, André Franquin, Julie Doucet).

Alle diese Texte sind in den letzten 15 Jahren schon erschienen, in »Konkret«, »nd« und »Jungle World«. Idealerweise soll sein Buch wirken wie »ein Spaziergang mit überraschenden Begegnungen«, schreibt Engelmann im Vorwort. Das ist ein angenehm freundlicher Ansatz. Das Buch hat auch einen guten Titel: »Dahinter. Dazwischen. Daneben«. Abseits der massenmedialen Vermarktung, könnte man ergänzen, auf dem Buchrücken wird das Thema »kulturelles Leben im Schatten« genannt.

Das bedeutet in der Tendenz Emanzipation und Antikapitalismus, die Engelmann sehr schön am Beispiel der Comicfigur Gaston herausarbeitet, die Ende der 50er Jahre von André Franquin geschaffen wurde: Gaston ist Bürobote in einem Comicverlag »und wirklich zu nichts zu gebrauchen«, wie sein Chef Fantasio sagt. »Zumindest nicht zu gebrauchen im Sinne des Kapitalismus, seine Beschäftigung erbringt keinen Mehrwert, zumindest selten, und wenn, dann nicht zum Vorteil seiner Vorgesetzten«, ergänzt Engelmann. Stattdessen stiftet Gaston meist ein lustiges Chaos, gerade weil er sich als ewiger Prokrastinator eigentlich jede Arbeit ersparen will.

Der gemeinsame Nenner der in diesem Buch versammelten Persönlichkeiten ist die gegenkulturelle Ablehnung der von ihnen vorgefundenen »Alten Werte«, wie er schreibt. Und das ist auch das Prinzip der jugendlichen Subkulturen von Rock’n’Roll bis Hip-Hop, die die Kulturindustrie immer wieder erneuern. Doch das ist eh schon alles bekannt, da muss man nicht mehr Horkheimer und Adorno aus der »Dialektik der Aufklärung« bemühen, mit ihrem Diktum, in der Kulturindustrie sei für jeden etwas vorgesehen.

Um diese Kritik geht es Engelmann auch nicht, sondern um das »Gesetz der guten Nachbarschaft«, nach dem der Kunsthistoriker Aby Warburg ab 1904 seine legendäre Bibliothek eingerichtet hat. Es galt bei ihm für Bücher aus allen möglichen Bereichen, von Philosophie über Ethnologie bis zur Kunstwissenschaft, die gleichberechtigt präsentiert wurden, um Material für den »Befreiungskampf des menschlichen Bewusstseins« bereitzustellen.

Warburg ist dann auch der erste Text im Buch gewidmet. Der Hamburger Bankierssohn schlug seine Beteiligung am laufenden Geschäft aus, unter der Bedingung, dass ihm seine Familie jedes Buch kaufen würde, das er haben wollte. Und so schuf er seine »Kulturwissenschaftliche Bibliothek« mit über 20 000 Bänden. Dieses Ensemble und nicht etwa ein einzelnes Buch gilt als Warburgs Hauptwerk. Es sollte in seinen Worten der »Entgiftung« der »pathetischen Gewalten«, der irrationalen Ängste und Drohungen dienen.

Es sind diese »pathetischen Gewalten«, die Engelmanns Außenseitern zu schaffen machten, ja für sie lebensgefährlich waren: Faschismus, Rassismus und Stalinismus. Ihm als Autor ist völlig klar, dass er als Kind der BRD-Middle-Class-Gesellschaft »meist die Wahl (hatte), mich aus freien Stücken als Außenseiter zu definieren, als Sonderling mit seltsamen Interessen«. Man hört halt komische Musik, schaut merkwürdige Filme und liest Bücher, die nicht so einfach sind. Und so schließt sich beispielsweise der Kreis zwischen Punk und Bolschewismus. Allerdings musste Johnny Rotten (der hier nicht vorkommt) anders als Ilja Ehrenburg (der vorkommt) niemals fürchten, vom herrschenden System umgebracht zu werden.

Denn es besteht ein großer Unterschied zwischen den Zuschreibungen und den Selbstdefinitionen. Die afroamerikanische Schriftstellerin Nella Larsen hatte einen schwarzen karibischen Vater und eine weiße dänische Mutter, die in Chicago erst versuchte, das »Schwarzsein« ihrer Tochter zu verheimlichen, und dann, als dies nicht mehr gelang, mit ihr nach Dänemark zog. Als Larsen sich als Schwarze definierte und zurück in die USA ging, brach ihre Familie den Kontakt ab. Aber sie traf auch auf Ablehnung in der Schwarzen Community, weil sie »nur« eine dänische Migrationsgeschichte vorzuweisen hatte und keine Vorfahren, die Sklaven gewesen waren. Sie zog sich aus der Öffentlichkeit zurück und blieb bis zu ihrem Tod 1964 vergessen. Doch in den 90er Jahren wurde ihr Werk an den US-amerikanischen Universitäten Teil des Literaturkanons, da sie pionierhaft den »Race«-Begriff dekonstruiert habe.

Unter der Überschrift »Bei uns ist überall Ausland« erzählt Engelmann mehrere solcher »Migrationsgeschichten«, wie er auch »Blicke aus Osteuropa« präsentiert und Vertreter*innen einer »Ästhetik nach Auschwitz«. Er würdigt die deutsch-amerikanische Arte-Povera-Künstlerin Eva Hesse, die mit ihren Eltern die Shoah durch die Flucht nach New York überlebte und kurz vor ihrem Krebstod 1970 in einem Interview sagte: »Nichts in meinem Leben ist normal, nichts, nicht mal meine Kunst. Die ist noch das Einfachste in meinem Leben.«

Am Beispiel von Leonard Cohen zeigt Engelmann, »dass das Judentum mehr ist als Leid, Verfolgung und Nahostkonflikt, sondern auch ein zentraler Bestandteil der globalen Popkultur«. Wie Bob Dylan und Lou Reed saß auch Cohen sehr erfolgreich zwischen allen Stühlen: »Er verweigerte sich eindeutigen Aussagen, wollte sich von niemandem vor den Karren spannen lassen, weder in politischer noch in religiöser Hinsicht. Vielen waren seine Songs zu religiös, für religiöse Juden wiederum sexuell zu explizit, für die Hippie-Kultur zu düster und zu schwer.«

Man ist dahinter, dazwischen oder daneben. Das kann glücklich machen oder traurig, je nachdem, wie es so läuft. Und wenn alles gut läuft, dann ist es so wie bei den Mumins, der von Tove Jansson erfundenen skandinavischen Trollfamilie, die von Engelmann ebenfalls gewürdigt wird. »Wogegen sollen wir denn rebellieren?«, zitiert er einen Dialog in Mumintal, gegen die Polizei oder die gegen die Unterwelt? Nein, lautet die Antwort, bei beiden Seiten gebe es zu viele Freunde: »Gründen wir doch einfach einen Club der Rebellen. Das Wichtigste ist doch die Geselligkeit.« – »Und die Clubkrawatte.«

Jonas Engelmann: Dahinter. Dazwischen. Daneben. Von kulturellen Außenseitern und Sonderlingen. Ventil, 280S., br., 16€.

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