Vincenzo Nibali dreht seine letzten Runden

Italiens Radsportheld will bei seinem letzten Giro noch mal angreifen

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 5 Min.
Umjubelt auf seiner letzten Italien-Rundfahrt: Vincenzo Nibali
Umjubelt auf seiner letzten Italien-Rundfahrt: Vincenzo Nibali

Viel Freude hatten die italienischen Radsportfans bisher nicht bei diesem Giro d’Italia. Keinen Etappensieg eines heimischen Profis gab es bisher. Zwei Briten, zwei Niederländer, zweimal der Franzose Arnaud Démare sowie der Niedersachse Lennard Kämna teilten sich bisher die Etappensiege. Und auch im Klassement drängt sich kein Italiener auf.

Für die einzige Gefühlsaufwallung sorgte Alt-Star Vincenzo Nibali. Und auch das nicht mit einer bemerkenswerten sportlichen Leistung. An seinem Hausberg, dem Vulkan Ätna, musste Nibali am Dienstag sogar die Rivalen ziehen lassen. »Das war kein guter Tag für mich und auch kein guter für das Team«, meinte Nibali danach betrübt. Auf der Etappe musste zu allem Unglück auch noch sein Co-Kapitän bei Astana, Miguel Ángel López, wegen einer langwierigen Muskelverletzung die Segel streichen.

Die Herzen aller rührte Nibali allerdings am Folgetag. Im Etappenziel Messina, seiner Geburtsstadt, gab er seinen Abschied zum Saisonende bekannt. Ein paar Tränen sammelten sich in den Augenwinkeln des 37-Jährigen. Und auch manchem Zuschauenden wurde es feucht um die Augen. Denn Nibali ist einer der Großen des Radsports. Alle drei großen Rundfahrten hat er gewonnen, dazu noch zwei Klassikermonumente. Das gelang zuvor nur den ganz Übermächtigen: Eddy Merckx, Bernard Hinault und Felice Gimondi. Ganz auf ihre Stufe gehört er freilich nicht. Denn mit dem Weltmeistertrikot konnte Nibali sich nicht schmücken. Dass er das beim Regenrennen in Florenz im Jahre 2013 verpasste, ist einer der bittersten Momente in der 17-jährigen Profikarriere dieses Mannes.

Goldenen Glanz verbreitet sie dennoch. Deshalb, und auch weil weit und breit kein Erbe in Sicht scheint, ist derzeit Melancholie die vorherrschende Stimmung in Italiens Radsport. Hinzu kommt, dass er ein Fahrer des alten Schlages ist. Er machte die Mode der Spezialisierung auf nur ganz wenige Rennen, die der US-Amerikaner Lance Armstrong um die Jahrhundertwende einführte, einfach nicht mit. Nibali fuhr noch mit Armstrong Rennen. 2009 bestritten sie nicht nur gemeinsam eine Tour de France. Der Amerikaner auf dem absteigenden und der Italiener auf dem aufsteigenden Ast kamen bei der Bergetappe nach Le Grand Bornand sogar zeitgleich an. Sie waren beste Verfolger des damals dominierenden Trios Alberto Contador, Fränk und Andy Schleck. Sie alle fahren jetzt nicht mehr. Nibali ist aber immer noch da.

Natürlich, das Klassement der großen Rundfahrten ist kein Thema mehr für ihn. »Aber für eine Bravourtat an einem Tag ist Vincenzo noch immer gut«, sagte sein langjähriger sportlicher Leiter Giuseppe Martinelli »nd«. Nibali dürfte sich vor allem die Bergetappen in der dritten Giro-Woche dick angestrichen haben. Dann ist vielleicht wieder eine Bravourtat drin wie jene, die ihn beim Giro 2013 berühmt machte. Da kämpfte er sich bei Nebel und bitterkaltem Regen auf den von hohen Schneewänden begrenzten Serpentinen in den Dolomiten zum Solosieg auf der letzten Bergetappe. Das erinnerte an die epischen Taten des Marco Pantani. Sportlich gesehen war Nibali sogar noch erfolgreicher. Auf alle Fälle machte er mehr aus seinem Talent als »il pirata«.

Er ist überhaupt der Fahrer, der wohl am effektivsten sein Potenzial ausschöpfte. Wichtig dafür war Nibalis Beharrlichkeit. Er führt sie selbst gern auf die Entbehrungen zurück, die er als Radsportmigrant bereits im Teenager-Alter erfahren musste. Stets waren seine Anreisen zu den Nachwuchsrennen die längsten, erst mit der Fähre über den Stretto, dann lange Autofahrten nordwärts. Mit 15 Jahren zog er ganz in die Toskana, verließ Eltern und Bruder, die Freunde, die gesamte Umgebung. Der Umzug zahlte sich aus. Der soziale Preis, den er dafür zahlte, mochte aber auch Motivation sein, stets das Maximale herauszuholen.

Fürs Lernen immer neuer Dinge war er sich nie zu schade. Um den ein Jahr jüngeren Chris Froome in all seinen sportlichen Feinheiten zu verstehen, ließ er bei der Vorbereitung auf die Tour de France 2014 seinen Coach Paolo Slongo auf dem Motorrad genau die Antritte simulieren, mit denen der britische Kenianer die Frankreich-Rundfahrten zuvor so sehr geprägt hatte. Für die Spannung war es schade, dass Froome in jenem Jahr früh ausfiel und Nibali das im Training Gelernte nicht im Duell mit dem Original bestätigen konnte. Dass er jene Tour so dominierte, lag vielleicht aber auch an diesem Schattenfahren zuvor.

Die Explosivität, die ihm im Vergleich mit seinem Dauerrivalen Froome, aber auch mit den ganz Jungen wie Tadej Pogačar fehlt, versuchte Nibali mit Abfahrtskünsten auszugleichen. Legendär die Talfahrt, mit der er seine erste Lombardei-Rundfahrt gewann. In seinen letzten Jahren häuften sich aber auch die Stürze. Bevor er ganz zum Versehrten wird, macht er also Schluss. Das ist ein gutes Timing. Der Mann, den sie in seiner Heimat gern den »Hai von Messina« nennen, verfügt nicht nur über Renn-Instinkt, sondern auch über ein gutes Händchen für den Ausstieg. Radsport-Italien wird ihm noch zwei Wochen zu Füßen liegen.

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