Kriege schaffen Hunger

Auch die Nahrungsmittelhilfe in Katastrophengebieten leidet unter Knappheit und Preissteigerungen

Die steigenden Nahrungsmittel- und Treibstoffpreise bedrohen nicht nur die Ernährungssituation von Millionen Menschen, sondern zwingen uns auch in die unmögliche Situation, von den Hungernden nehmen zu müssen, um die Verhungernden zu ernähren.« Chris Nikoi, Regionaldirektor des UN-Ernährungsprogramms (WFP) für Westafrika, wählte dieser Tage drastische Worte, um die aktuell dramatische Lage bei der Hilfsgüterverteilung darzustellen. Schon vor dem Ukraine-Krieg habe man Rationen in Ländern wie Nigeria, der Zentralafrikanischen Republik oder dem Tschad reduzieren müssen. Nun verzögerten sich auch noch Lieferungen aus dem Schwarzmeerraum oder würden ganz gestrichen. Angesichts voller Getreidesilos in der Ukraine fordert die UN-Organisation eine Öffnung der dortigen Häfen.

Die Knappheiten und Preissteigerungen bei Agrargütern stellen nicht nur viele Verbraucher in aller Welt vor Probleme, sondern auch die Nothilfeorganisationen. Wichtige Lieferanten fallen aus, das Beschaffen von Grundnahrungsmitteln kostet deutlich mehr und deren Transport ebenfalls. Doch die Budgets sind begrenzt. WFP-Direktor Nikoi rechnet vor, dass in seiner Region allein wegen der Folgen des Ukraine-Krieges die Kosten für die Hilfen des Welternährungsprogramms in diesem Jahr um 136 Millionen US-Dollar steigen werden. Um die Hilfen in der Region »effektiv umsetzen« zu können, benötige die UN-Organisation in den nächsten sechs Monaten sogar dringend zusätzliche 951 Millionen Dollar.

Die angespannte Marktlage kommt nämlich ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, in dem im Westen und Nordwesten Afrikas ein neuer Hunger-Hotspot entsteht. Es ist eine fast schon klassische Situation: Dürre und Ernteausfälle haben vielerorts zu einer lokalen Knappheit an Nahrungsmitteln geführt. Der pandemiebedingte Wirtschaftseinbruch mit negativen Folgen für die öffentlichen Finanzen verschärft das Problem noch. Hinzu kommen sich verschärfende bewaffnete Konflikte, die das Bebauen von Äckern oder den Transport von Nahrungsgütern erschweren. Und da sich nun auch noch Importe massiv verteuern oder zum Teil ausbleiben, droht eine Katastrophe. Laut WFP hat sich der akute Hunger in der Region innerhalb von drei Jahren vervierfacht – bis Juni werden voraussichtlich 43 Millionen Frauen, Männer und Kinder betroffen sein. Besonders eng werden dürfte es zwischen den Ernten im Juni und Oktober in den Staaten Burkina Faso, Tschad, Mali, Mauretanien und Niger.

Hilfsorganisationen aus dem In- und Ausland sind gefrustet. Über viele Monate hatten sie schon versucht, die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit und der Geberländer auf die Hungersnot im Osten Afrikas zu lenken. Eine in dieser Woche veröffentlichte Studie von Oxfam, Save the Children und dem Jameel Observatory mit dem Titel »Dangerous Delay 2« listet allein neun größere Warnrufe unterschiedlichster Organisationen seit März 2020 auf. Die Geberländer hätten jedoch nur zögerlich und verspätet reagiert, so die NGO-Kritik. Von verstärkten Anstrengungen im Kampf gegen den Klimawindel und zur Beilegung bewaffneter Konflikte ganz zu schweigen. In den von extremer Dürre geplagten Ländern Äthiopien, Kenia und Somalia stirbt Schätzungen zufolge derzeit alle 48 Sekunden ein Mensch an den Folgen von Hunger und Unterernährung, heißt es in dem Bericht.

Seit der Corona-Pandemie gibt es wieder deutliche Rückschritte bei der globalen Armutsbekämpfung. Bis zum Ablaufen der UN-Millennium-Entwicklungsziele im Jahr 2015 hatten immerhin 72 von 129 Ländern die Vorgabe erreicht, die Zahl der hungerleidenden Menschen zu halbieren. Die nachfolgenden UN-Ziele der nachhaltigen Entwicklung beinhalten eine Beseitigung von Hunger und absoluter Armut auf der Welt bis 2030. Als wichtige Maßnahmen gelten die Stärkung des Sozialstaates, Förderung nachhaltiger Landwirtschaft und deren Anpassung an den Klimawandel oder die Beilegung bewaffneter Konflikte. Nach anfänglichen Erfolgen steigt seit 2020 die Zahl der Unterernährten aber wieder an. Auf deutlich mehr als 800 Millionen wird diese aktuell geschätzt. Als unterernährt gelten Menschen, die nicht genügend Kalorien zu sich nehmen können, um ihr Gewicht zu halten. Besonders stark steigt dabei die Zahl der Menschen, die von akutem Hunger betroffen sind. Ein kürzlich erschienener Bericht verschiedener UN- und Entwicklungshilfeorganisationen beziffert deren Zahl für das vergangene Jahr auf 191 Millionen, ein Anstieg um 40 Millionen gegenüber 2020, betroffen vor allem bürgerkriegsgeplagte Länder. Für mehr als eine halbe Million Menschen in Äthiopien, im Süden Madagaskars, im Südsudan und Jemen ging es ums nackte Überleben.

Diese Geißel der Menschheit, die eher mit den 1970er Jahren verbunden wird und nie ganz weg war – man denke nur an die große Hungersnot in Somalia 2011 –, ist zurückgekehrt. Statt Entwicklungsfragen rückt Katastrophenhilfe wieder mehr in den Vordergrund. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht eine größere Organisation mit Blick auf die Folgen des russischen Kriegs in der Ukraine und auch der Sanktionen auf die Gefahr einer weltweiten Hungerkatastrophe hinweist. Neben einigen afrikanischen Staaten, Jemen und Afghanistan seien auch Länder in Mittelamerika und Südasien bereits stark betroffen. Die Deutsche Welthungerhilfe warnt vor einer Wiederholung der Ernährungskrise von 2008, als im Gefolge stark gestiegener Rohstoffpreise über eine Milliarden Menschen unterernährt waren.

Viele Augen richten sich daher auf die G7, die nach wie vor wichtigste Gruppe potenzieller Geberländer, derzeit unter deutscher Präsidentschaft. Entwicklungsministerin Svenja Schulze versprach nach einem Treffen mit ihren Amtskollegen in dieser Woche: »Wir müssen entschlossen und gemeinsam handeln und dafür sorgen, dass das Getreide schnell zu den Hungernden kommt.« Auf den Weg gebracht wurde eine »Globalen Allianz für Nahrungsmittelsicherheit«, an der unter Leitung der Weltbank neben der G7 weitere Staaten, mehrere UN- und private Hilfsorganisationen sowie die Afrikanische Union beteiligt sein werden. Als Vorbild gilt Schulze die Covax-Initiative zur globalen Covid-Impfstoff-Verteilung. Das ist wenig ermutigend, da deren Arbeit dadurch behindert wurde, dass die zahlungskräftigen Staaten sich selbst übermäßig eindeckten. Auch jetzt hat man den Eindruck, dass die G7-Staaten mehr mit den eigenen Problemen beschäftigt sind – den Pandemiefolgen und der massiven Aufstockung der Rüstungsausgaben. Auch NGOs äußern sich mit Blick auf die Allianz enttäuscht: »Es fehlt eine Konkretisierung, etwa über die Finanzierung, die beteiligten Staaten und den zeitlichen Ablauf«, so Fiona Uellendahl, Politikexpertin von World Vision.

Vor Ort geht es um andere zeitliche Dimensionen: »Die Kühe sind alle tot. Wir haben noch ein paar Kamele und Ziegen, aber wir befürchten, dass wir auch sie verlieren, wenn die Dürre weitergeht«, schildert im Oxfam-Bericht Ahmed Mohamud, Viehhalter aus dem Distrikt Wajir im Osten Kenias, die Situation. Genau das könnte aber geschehen, wenn sich die jüngste Wetterwarnung der Weltmeteorologieorganisation bewahrheitet: »Regen wird in der vierten Saison in Folge ausfallen, so dass Äthiopien, Kenia und Somalia in eine Dürre von einer Dauer geraten, wie es sie in den letzten 40 Jahren nicht gegeben hat.«

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