Unsichtbar und frei

Der Übersetzer Thomas Reschke wird neunzig. Über 150 Bücher aus dem Russischen sind ihm zu verdanken

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 4 Min.

Seine jüngste Übersetzung ist diese: »Sechs Jahre sind die Ewigkeit« von Eduard Kotschergin, der, 1937 geboren, mit drei Jahren in ein Kinderheim des NKWD kam. Der Vater erschossen, die Mutter als angebliche Spionin in ein Lager gesperrt. Als der Krieg zu Ende war, wollte er sie suchen. Das Buch handelt von seiner Flucht über Tausende Kilometer – erst nach sechs Jahren kommt er in Leningrad an.

Das Aufstörende in der russischen Literatur hat Thomas Reschke immer schon gereizt. Das Tabu Stalinismus und überhaupt all das, was zu DDR-Zeiten nicht ins offizielle Bild der UdSSR passte, was viele Leser suchten und was auch weh tat. Als wir jetzt in seiner Wohnung in Berlin-Pankow sitzen, fällt mein Blick auf zwei Bilder an der Wand: ein Kupferstich von Danzig, wo er am 4. Juni 1932 geboren wurde und die Gewalt beim Einmarsch der sowjetischen Truppen erlebte, und ein Foto seiner Frau Renate, die im September 2017 an Krebs gestorben ist. Bis zuletzt hatte sie an der Übersetzung von Andrej Platonows großem Roman »Tschewengur« gearbeitet. Die Ausgabe bei Suhrkamp hat sie schon nicht mehr gesehen.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

An Eduard Kotschergins Buch, das bei Aufbau erschien, haben sie kapitelweise zusammen mit Ganna-Maria Braungardt gearbeitet. Vor ihr spricht Thomas Reschke voller Hochachtung. Dabei gehörte es zu seiner Tätigkeit beim Verlag Volk und Welt – 30 Jahre war er dort Redakteur –, fremde Übersetzungen kritisch mit dem Original zu vergleichen, was heute kaum mehr geschieht, weil man in den Verlagen Russischsprechende mit der Lupe suchen muss. Bei Volk und Welt aber gab es eine Abteilung von zwölf Leuten, die im Russischen und teils auch in anderen Sprachen, die in der UdSSR gesprochen wurden, zu Hause waren. Sie waren meistens gut bekannt mit den Autoren, lasen oft schon die Manuskripte, bevor sie gedruckt waren, und konnten Kürzungen der sowjetischen Zensur bisweilen gar rückgängig machen.

»Konspirative Dinge«, sagt Thomas Reschke, habe es allerdings auch auf andere Weise gegeben. Dass ausgerechnet jener Lektor ein Spitzel war, den ich für besonders widerständig hielt, erfahre ich erst jetzt. »Meine Stasi-Akte umfasst elf Bände von je 300 Seiten«, sagt Thomas Reschke. Nicht alles habe er davon gelesen. »An mir prallt so was ab.«

Offen, unverstellt – so habe ich ihn schon im DDR-Schriftstellerverband erlebt. Einer, der den Mund aufmachte, weil er ehrlich und integer war, frei in seinem Wesenskern. An der DDR, sagt er, störten ihn »Eingesperrtsein« und »geistige Bevormundung«. Wie gerade die sowjetische Literatur damals Freiräume eröffnete, größere sogar als die aus dem Westen, gehört zu meinen erstaunlichen Erinnerungen: Wladimir Tendrjakow, Juri Trifonow, Wassil Bykau, Wassili Schukschin (»Wer seine vier Bände gelesen hat, weiß über Russland Bescheid«) – und natürlich Tschingis Aitmatow. Da gibt es mir zu denken, dass und wie Thomas Reschke dessen großen Roman »Der Tag zieht den Jahrhundertweg« kritisch sieht. Zum Helden gemacht habe Aitmatow den Eisenbahner Edige, statt sich zu empören, unter welch erbärmlichen Bedingungen er leben muss.

Schon vor über dreißig Jahren, als ich Reschke besuchte, habe ich seine vielen Wörterbücher bewundert. Inzwischen sind es gar noch mehr geworden: Neben Sammlungen zum technischen, militärischen, juristischen Vokabular, eine ganze Enzyklopädie über die russischen »Mutterflüche«, vier Bände »Verbrechersprache«, zwei über den »Diebesjargon«… Das Buch zum Jugendslang hat er besonders für die Axjonow-Übersetzungen gebraucht.

Ob es auch Unübersetzbares gibt, will ich wissen. »Und ob! Wenn eine direkte deutsche Entsprechung fehlt, muss man was erfinden. So war es zum Beispiel mit dem winzigen ›Wandling‹ aus Anatoli Kims Roman ›Eichhörnchen‹.« – Kim, den vergesse ich nicht. In Kasachstan geboren, schrieb er russisch und hatte koreanische Wurzeln. Das macht seine Prosa so besonders. Wieder zu Hause, gebe ich »Kim« auf Kyrillisch bei Google ein und finde mehrere neue Novellen und Romane. Wer wird sich ihrer annehmen, heute, da russische Literatur so aus dem Blickfeld rückt? 83 wird Kim bald, lebt jetzt in Peredelkino bei Moskau. Wie viele, die Thomas Reschke übersetzte: Isaak Babel, Ilf/Petrow, Jewgeni Jewtuschenko, Bulat Okudshawa, Anatoli Rybakow, Wladimir Solouchin und nicht zuletzt Boris Pasternak. Die Neuübersetzung von »Doktor Shiwago« hat er mir geschenkt.

Über 150 Bücher aus dem Russischen sind ihm zu verdanken. Was seine liebste Arbeit war? »Der Meister und Margarita« von Michail Bulgakow. Begeistert spricht er davon, wie sich in diesem Roman verschiedene Stilebenen überlagern – Satire, biblische Reminiszenzen und Fantastisches. »Wie Margarita als Hexe über Moskau fliegt: unsichtbar und frei.« Das Wort »frei«, in der russischen Ausgabe damals gestrichen, gehört zu den 180 Stellen, die er mithilfe von Bulgakows Witwe in die Übersetzung von 1967 »hineinoperiert« hat. Die vollständige Fassung ist dann 1975 erschienen.

Eintauchen in die Geisteswelten großer Literaten, wunderbar beflügelnde Arbeit am Wort: Heute, am 4. Juni, wird Tomas Reschke neunzig. Ich habe ihn als einen in sich starken, glücklichen Menschen erlebt.

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