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Mein Sohn, der Faschist

Der französische Roman »Was es braucht in der Nacht« ist die eindrückliche Erzählung einer Vater-Sohn-Entfremdung

  • Sarah Nägele
  • Lesedauer: 5 Min.

Vor etwas mehr als einem Monat fand in Frankreich die Stichwahl um die Präsidentschaft statt. Wie schon vier Jahre zuvor standen sich der amtierende Emmanuel Macron und Marine Le Pen gegenüber. Déjà vue. Dass es die rechtsextreme Kandidatin auch in diesem Jahr bis in die Stichwahl geschafft hatte, schockierte kaum. Wieso eigentlich nicht? Hat man sich in Frankreich längst daran gewöhnt, à droite, also rechts, zu stehen? Das literarische Debüt von Laurent Petitmangin »Was es braucht in der Nacht« bringt den Leser*innen näher, was die Front National in Frankreich so attraktiv macht. Auf weniger als zweihundert Seiten liefert der Autor eine eindrückliche Schilderung aktueller gesellschaftlicher und politischer Realitäten im Nachbarland in Form eines sensiblen Romans, der einen aufgewühlt zurücklässt.

Die Handlung entspinnt sich rund um einen namenlosen Ich-Erzähler aus Lothringen, Vater zweier Söhne, Monteur beim SNCF, der französischen Eisenbahn. Nachdem seine Frau aufgrund einer Krebserkrankung verstorben ist, zieht er den 13-jährigen Fus und dessen jüngeren Bruder Gillou alleine groß. Der Vater ist bemüht, aber überfordert. Kommunikation findet hauptsächlich über Freizeitaktivitäten statt: Fußball ist die gemeinsame Liebe. Als Arbeiter ist der Erzähler seit vielen Jahren überzeugtes Mitglied der Sozialisten, von denen er nur als »die Partei« spricht. Doch auch hier, in der kommunalen Parteiarbeit, ist die Linke in der Krise: »Es war mir ein Bedürfnis, regelmäßig bei der Partei vorbeizuschauen, so wie es anderen ein Bedürfnis ist, in die Kirche zu gehen. Auch wenn dort nicht mehr viel los war […] Zum Verzweifeln brachte mich nur, dass wir uns immer mehr isolierten. Eine vereinigte Linke lag in weiter Ferne.«

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist und versucht, es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. dasnd.de/hohmann

Die zersplitterte französische Linke ist ein Problem, das auch der französische Autor und Soziologe Didier Eribon immer wieder adressiert. Bereits in den 1980er Jahren haben sich neoliberale Kreise von Intellektuellen, Geschäftsleuten, Linken und Konservativen, Denkfabriken zwischen Universitäten und der Wirtschaft gebildet, die die sozialen Schichten als nichtig erklärten und behaupteten, es gebe nur noch autonome und selbstverantwortliche Individuen, so Eribon. So habe man den Abbau sozialer Sicherungssysteme rechtfertigen können. Konservative Linke hätten sich mitreißen lassen und die Arbeiterklasse aus ihrem Vokabular gestrichen, mahnt er bereits 2016 in einem nd-Interview. Die Verneinung der Arbeiterklasse durch die Linken habe zu einem nachhaltigen Erstarken des rechtsextremen Front National geführt, die ihre Wählerschaft nun im Arbeitermilieu rekrutieren konnte. Die Problemlage hält bis heute an.

Aber zurück zum aktuellen Roman. In diesem ist der Ich-Erzähler schockiert, als ihm ein Parteikollege erzählt, er habe seinen älteren Sohn Fus (inzwischen 22) in einer Gruppe Front-National-Unterstützer*innen gesehen, die für Marine Le Pen plakatierte. Mein Sohn, ein Fascho? Mit dieser Erkenntnis kann der Vater nicht umgehen – und unternimmt folglich: nichts. Er sucht zwar das Gespräch, doch außerstande, eine echte Auseinandersetzung zu führen, findet er sich mit der Rechtfertigung des Sohnes ab: »Meine Kumpels sind gute Jungs, vor zwanzig Jahren hättet ihr zusammen gekämpft. Sie pfeifen auf das, was die in Paris von sich geben, sie setzen sich für unsere Gegend ein.«

Die stillschweigende Entfremdung der beiden nimmt ihren Lauf. Der Vater spricht über Monate nicht mit Fus. Er hat ein ausgeprägtes soziales Gewissen, kann seine Überzeugungen jedoch nicht artikulieren. Die einzige Brücke zwischen den beiden ist Gillou, der sich nicht von seinem älteren Bruder abwendet. Über Facebook verfolgt der Erzähler, wie Fus und seine Kumpel alte Holzmöbel in der Region aufkaufen, herrichten und wieder verkaufen; wie sie ein Zeltlager errichten. Doch auf derselben Seite findet er zahlreiche antisemitische, rassistische Hass-Kommentare. Der Vater ist tief beschämt aufgrund der ideologischen Verirrungen seines Sohnes, auch wenn das gemeinsame Umfeld überraschend wenig schockiert scheint: »Sie wussten nur, dass er die Seiten gewechselt hatte und achteten ein wenig mehr darauf, was sie zu mir sagten, um in kein Fettnäpfchen zu treten, mich nicht mit einem dummen Spruch zu verletzen, ein bisschen so, als ob ich ihnen gestanden hätte, Fus sei schwul. Nichts Schlimmes also. Es erforderte ein bisschen Achtsamkeit, aber es hatte keine Konsequenzen.«

Vor dem Hintergrund der schleichenden Akzeptanz spitzt sich die Lage zu. Eines Tages finden Gillou und der Vater einen blutüberströmten Fus in der Wohnung vor. Er wurde von Linksautonomen zusammengeschlagen. In der Notaufnahme wird er sofort ins künstliche Koma versetzt, aus dem er zwar wieder aufwacht, aber womöglich anhaltende neurologische Schäden und eine erhebliche Sehbehinderung davon trägt. Erst als er seinen Sohn fast verliert, schafft es der Vater, sich mit diesem auszusöhnen. Und dieses Gefühl wird gleich der nächsten Probe unterzogen. Der nächste Schauplatz des Romans ist ein Prozess, in dem Fus der Angeklagte ist.

Petitmangin schildert beklemmend, wie ein junger Mann aus einer linken Arbeiterfamilie Teil der rechtsextremen Bewegung wird, die ihm Halt, Zugehörigkeit und Anerkennung vermittelt. Dabei macht er es den Lesenden in ihrer Reflexion nicht zu leicht: War Fus nur zur falschen Zeit am falschen Ort? Wie viel Schuld hat ein Elternteil an der Radikalisierung eines Kindes? »Was es braucht in der Nacht« zeigt eindrücklich, dass die eigenen Gefühle der politischen Ideologie, selbst dem eigenen Moralempfinden, widersprechen können. Es stellt sich die Frage, wie bedingungslos Elternliebe ist?

Der in Lothringen spielende Roman adressiert zudem viele Probleme des ländlichen Frankreichs. Petitmangin schildert den schleichenden Wegbruch der Infrastruktur auf dem Land. Er erzählt von der schlechten Verkehrsanbindung, die den Alltag erschwert und das Gefühl von Isolierung schürt. Er schreibt von den wenigen Bildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten für junge Menschen, von fehlenden langlebigen Berufsaussichten. Und eben auch von den Versäumnissen der Sozialistischen Partei, die die Bedürfnisse ihrer Wähler*innen verkennt. Von der zunehmenden Enttäuschung angesichts »leerer Versprechen« aus Paris.

Das Problem der zersplitterten Linken erfährt jetzt immerhin Zuwendung in der politischen Realität. Anfang Mai schlossen sich die radikal linke »La France Insoumise« (LFI), mit den Sozialisten (PS), den Grünen (EELV) und der Kommunistischen Partei (PCF) zu einem Linksbündnis zusammen, das im Juni bei der französischen Parlamentswahl antreten soll. Ziel ist es, Jean-Luc Mélenchon zum Premierminister zu machen, um die neoliberale Agenda von Präsident Macron zu stoppen. Auch wenn sich Beobachter*innen skeptisch zeigen, könnte das eine neue Chance für die französische Linke sein.

Laurent Petitmangin: »Was es braucht in der Nacht«, dtv, geb., 160 S., 20€.

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